Kriminalität:Warum wir eine Anzeigepflicht für sexuellen Missbrauch benötigen

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Schätzungen zufolge werden nur ein Fünftel der Fälle sexuellen Missbrauchs, die sich meist im nahen Umfeld abspielen, überhaupt zur Anzeige gebracht (Foto: N/A)

Wer von einem sexuellen Missbrauch erfährt, ist in Deutschland bislang nicht verpflichtet, diesen anzuzeigen. Diese Praxis schützt nicht die Opfer, sondern die Täter.

Kommentar von Anna Fischhaber

40 Kinder sind in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Pro Tag. Die Kriminalstatistik ist erschreckend und hat doch mit der Realität nichts gemein, denn die Dunkelziffer ist in diesem Feld hoch. Extrem hoch. Schätzungen zufolge werden nur ein Fünftel der Fälle, die sich meist im nahen Umfeld abspielen, überhaupt zur Anzeige gebracht. Im Umkehrschluss heißt das: Bis zu 80 Prozent der Pädokriminellen geraten nie in das Blickfeld der Polizei. Man stelle sich einmal vor, 80 Prozent der Mörder in Deutschland entgingen einer Bestrafung. Es ist höchste Zeit, den Druck auf die Täter zu erhöhen. Doch wirksamen Schutz für Kinder gibt es nur, wenn sich alle verantwortlich fühlen.

Dafür braucht es die Anzeigepflicht, wie sie es in zahlreichen Nachbarländern bereits gibt. Mitwisser müssten dann selbst mit einer Bestrafung rechnen, wenn sie Missbrauch nicht ernsthaft zu unterbinden helfen. Die wenigen Versuche, eine solche Pflicht durchzusetzen, scheiterten in Deutschland ausgerechnet mit Verweis auf das Kindswohl: Täter würden bei einer drohenden Anzeige den Geheimhaltungsdruck verstärken, Kinder könnten sich dann nicht mehr vertrauensvoll Hilfe suchen. Aber muss man Opferschutz und Täterverfolgung wirklich gegenseitig ausschließen?

Natürlich, die Ängste der Betroffenen müssen ernst genommen werden. Sie dürfen am Ende nicht die sein, die unter einer solchen Anzeigepflicht leiden. Nur wenn Therapeuten auf eine Anzeige verzichten können, wenn das Opfer das ausdrücklich wünscht, kann eine vertrauensvolle Beratung weiter funktionieren. Nur wenn die Strafverfolgung Kinder nicht noch mehr traumatisiert, werden sie sich auch öffnen. Dafür muss die Justiz kindgerechte Strafverfahren gewährleisten, in denen ausgebildete Polizisten, Staatsanwälte und Richter die Opfer befragen und diese sensibel begleitet werden, etwa von erfahrenen Anwälten. Andere Länder wie Schweden haben mit ihrem behördenübergreifenden Konzept bereits Schutzräume entwickelt, in denen die medizinische und juristische Aufarbeitung so schonend wie möglich erfolgt.

Bis dahin ist es in Deutschland noch ein weiter Weg. Aber solange über die meisten Kinder in Not gar nicht erst geredet wird, solange sich Täter völlig sicher fühlen können, werden Gesellschaft und Justiz kaum umdenken.

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