Am Morgen des 4. März 2018 geht Bernhard Günther joggen. Den Vorstand des Energiekonzerns Innogy trennen etwa 300 Meter von zu Hause, der damals 51-Jährige läuft durch den Park. Es ist ein kalter Sonntagmorgen, drei Grad über Null im nordrhein-westfälischen Haan, einer Stadt zwischen Düsseldorf und Wuppertal.
Ein jüngerer Mann habe ihm auf der von Büschen gesäumten, gepflasterten Strecke den Weg abgeschnitten, so erinnert sich Günther später. Ein Zweiter sei plötzlich von hinten herangestürmt. Einer reißt ihn zu Boden und hält ihn fest. Der andere öffnet ein Gefäß und entleert den Inhalt über dem am Boden liegenden Energie-Manager. Es ist Säure.
Die Männer fliehen, Günther kann sich noch schwer verletzt zu seinem Haus schleppen, wählt den Notruf, versucht sich abzuwaschen. Die Rettungskräfte behandeln ihn zunächst in Spezialanzügen.
Eigentlich hatte die Staatsanwaltschaft Wuppertal ihre Ermittlungen wegen versuchten Mordes vor einem Jahr eingestellt. Doch nun, eineinhalb Jahre nach dem Anschlag, könnte der Fall doch noch aufgeklärt werden. Es habe anonyme Hinweise gegeben, heißt es aus Wuppertal, daraufhin ist ein 32-Jähriger am 18. Oktober auf einer Sportveranstaltung in Köln festgenommen worden, wie die Staatsanwaltschaft jetzt bekannt gab. Übereinstimmenden Berichten zufolge soll es sich um ein Ringer-Turnier gehandelt haben.

Gegen den Mann wurde Haftbefehl erlassen, er kam in Untersuchungshaft. Außerdem habe es in mehreren Städten Durchsuchungen "gegen weitere, mutmaßlich an der Tat beteiligte Personen" gegeben.
Günther überlebt das Attentat damals schwer verletzt. Er musste vier Wochen in einer Spezialklinik behandelt werden. Richtete sich der Säureangriff gegen ihn als Privatmann, als Manager oder sollte die Attacke seinem Arbeitgeber gelten? Unklar. Zuletzt sollen die Ermittler Täter aus seinem privaten Umfeld für unwahrscheinlich gehalten haben. Die Ermittlungen haben sich dem Vernehmen nach auf berufliche Hintergründe konzentriert. Günthers Arbeitgeber Innogy hatte 80 000 Euro Belohnung für Hinweise ausgelobt. Doch trotz "umfangreicher Untersuchungen sind die Identität der Täter sowie das Motiv für den Anschlag unklar geblieben", teilte die Staatsanwaltschaft damals mit.
Statt sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, kehrt der mittlerweile 52-Jährige Günther schnell auf seinen Vorstandsposten bei Innogy zurück: Schon zehn Wochen nach dem Attentat nimmt er an Telefonkonferenzen mit Wirtschaftsjournalisten teil, erläutert die Quartalszahlen. "Ich bin froh, dass ich heute hier bin", sagt der promovierte Volkswirt damals, "auch wenn der Weg, der vor mir liegt, sicherlich noch ein langer sein wird."
Im März dieses Jahres dann tritt Günther erstmals wieder öffentlich auf, mit einer verdunkelten Brille und einem Stirnband um den Kopf. Er muss seine Augen schonen, hat aber seine Sehkraft behalten. "Das war vor einem Jahr alles andere als klar, dass das so laufen würde", sagt der gebürtige Leverkusener bei der Bilanzpressekonferenz des Energieversorgers.
Der Energiekonzern RWE hatte sein Geschäft mit Netzen, Vertrieb und Erneuerbaren Energien vor drei Jahren in die Firma Innogy ausgelagert; zuvor hatte auch Günther jahrelang für RWE gearbeitet. Auch als RWE-Finanzvorstand war er schon einmal tätlich angegriffen worden. Heute gehört Günther, mittlerweile 52 Jahr alt, noch immer dem Vorstand von Innogy an - auch wenn der Versorger mit gut 42 000 Beschäftigten kürzlich vom Konkurrenten Eon übernommen wurde.
Finanzchef Günther hatte diesen Zusammenschluss in den vergangenen Monaten mit vorbereitet. Und erst kürzlich erhielt der frühere Unternehmensberater Günther sogar noch mehr Verantwortung: Der Aufsichtsrat hat ihn für den Übergang zusätzlich zum Personalchef von Innogy ernannt.