In der gewaltigen Kuppel des Petersdoms zu Rom steht in zwei Meter hohen Buchstaben das gewaltige Zitat aus dem Matthäusevangelium, das mit den Worten "Tu es Petrus . . ." beginnt und auf Deutsch wie folgt lautet: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und dir gebe ich die Schlüssel des Himmelreiches." Es ist ein Wort von ungeheurem Anspruch, ein Wort von magischer Autorität, ein Jahrtausendwort, das den Papst erhebt, das über ihm schwebt, das aber auch fordernd auf ihm lastet. "Petrus" zu sein, der Fels also, auf dem die Kirche ruht - das ist eigentlich keine Aufgabe, die man ablegen kann. Umso ungeheuerlicher für die katholische Welt ist der Rücktritt des deutschen Papstes Benedikt.
Dieser Rücktritt sprengt eine zweitausendjährige Tradition, er sprengt das Selbstverständnis des katholischen Papsttums. Dieses Selbstverständnis sieht die 264 Päpste seit Petrus als Nachfolger dieses Apostels, als Vicarius Jesu Christi, als Stellvertreter Gottes auf Erden. Ein Stellvertreter außer Dienst, ein Vicarius a. D., ein Ex-Papst, war bisher undenkbar. Es gibt nur ein einziges Beispiel für einen solchen Rücktritt aus eigenem Antrieb, Papst Coelestin V., im Jahr 1294. Nun hat Benedikt, gut siebenhundert Jahre später, im Bewusstsein der Schwäche seines Alters, das bisher Undenkbare gewagt. In seiner Ermattung und Entkräftung zeigt Benedikt Kraft und historische Größe, er überwindet sein autokratisches Führungsverständnis, das einen Rücktritt eigentlich nicht zulässt.
In dieser Größe liegt aber etwas sehr Bitteres, ja Tragisches - weil die Kraft sich eben erst im Abschied zeigt. Nur mit seinem Rücktritt sprengt Benedikt die Ketten der Tradition, überall sonst hat er an den Ketten der Tradition nicht gerührt, da und dort hat er sie sogar verstärkt; nur dieses eine Mal wächst er über sich, über sein Herkommen, sein traditionelles Verständnis von Kirche, nur dieses eine Mal wächst er hinaus über das, was schon immer galt in der Kirche.
In all den Problemen, die die Kirche im dritten Jahrtausend bedrängen, blieb er der Papst des zwanzigsten Jahrhunderts, der Papst, in dem die theologische Weisheit des zweiten Jahrtausends zu Hause war - die ihm aber das Verständnis für das dritte Jahrtausend nicht brachte. Benedikt war und ist der letzte der alten Kirchenväter - er hat über Augustinus promoviert und über den Franziskanerphilosophen Bonaventura habilitiert. Er denkt mit ihnen und lebt in ihren Lehrgebäuden. Er hat das Neue nicht gewagt. In seinem letzten Buch über die Kindheitsgeschichte Jesu hatte er nicht die Kraft, das Dogma von der Jungfrauengeburt verständlich zu interpretieren; er hat nur auf die Möglichkeiten verwiesen, die Gott hat.
Als Benedikt vor fast acht Jahren gewählt wurde, galt er als Papst des Übergangs. Er hat diesen Übergang aufopferungsvoll moderiert. Und er hat sich dem Missbrauchsskandal eindrucksvoll gestellt. Aber er blieb der Pontifex des Übergangs, er hat ihn nicht geschafft, die andere Seite der Brücke hat er als Brückenbauer nicht erreicht. Und so steht am Ende des Übergangs-Pontifikats die Frage: Übergang wohin? Niemand weiß es.
Diese Kirche ist keine triumphierende Kirche mehr, auch keine streitende; sie ist eine fragende Kirche. Die Fragen klopfen, sie hämmern an die Türen des Vatikans, aber sie wurden nicht eingelassen: Die Rolle der Frauen in der Kirche. Der Zölibat. Die Sexualmoral. Die Aufgabe der Kirche in der Weltgesellschaft. Und für wen sind die Sakramente? Sind sie Instrumente zur Disziplinierung der Menschen - oder Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens? Kardinal Martini, der verstorbene Kardinal von Mailand, hat diese Frage in einem Interview kurz vor seinem Tod gestellt. Er hat an die vielen geschiedenen und wiederverheirateten Paare gedacht, an die Patchworkfamilien, für die die römische Kirche wenig übrig hat.
Diese Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Die Vitalität und die phantasievolle Kraft der Kirche in der Dritten Welt, in Lateinamerika zumal, hat der Vatikan nicht an sich herangelassen. Die Gotteshäuser in Europa sind groß, aber leer; die Organisation ist eingespielt, aber kraftlos. Benedikt wollte vor das Vatikanische Konzil zurück, weil die Welt vor dem Vatikanum seine Welt war, seine Heimat. "Das Volk Gottes unterwegs", das in eine neue Welt aufbricht - dieser Aufbruch blieb ihm fremd.
Ecclesia semper reformanda, Kirche ist immer reformbedürftig; so heißt ein Satz, der oft Augustinus, oft Martin Luther zugeschrieben wird. Einerlei. Wenn es ihr Wesen ist, sich ständig zu erneuern, hat sie das Wesentlich lange vergessen. Die Kirche war selten so reformbedürftig wie am Ende des Pontifikats Benedikts.