Raser-Prozesse:Bei Vollgas Mord

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Die zerstörten Autos nach dem tödlichen Unfall, der nun in Stuttgart verhandelt wird. (Foto: Kohls/dpa)
  • In Stuttgart muss sich seit diesem Mittwoch ein junger Mann wegen eines Autounfalls vor Gericht verantworten, bei dem zwei Menschen starben.
  • Die Richter müssen klären, ob das Ganze sogar als Mord zu werten ist.
  • Diese grundlegende Frage stand bei mehreren Raser-Prozessen in der jüngeren Vergangenheit im Raum und sorgt bei Juristen immer noch für Diskussionen.

Von Hans Holzhaider

Wenn im Straßenverkehr ein Mensch zu Tode kommt, dann wird der Verursacher wegen fahrlässiger Tötung bestraft, mit maximal fünf Jahren Freiheitsstrafe. Jahrzehntelang war das die herrschende Meinung in deutschen Gerichtssälen - bis zum 27. Februar 2017. An diesem Tag verurteilte das Landgericht Berlin zwei 24 und 26 Jahre alte Männer wegen Mordes zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Sie hatten auf dem Kurfürstendamm in Berlin ein Autorennen ausgetragen, hatten mit Geschwindigkeiten bis zu 160 Stundenkilometern mehrere rote Ampeln überfahren, bis der eine an einer Kreuzung einen Jeep rammte, dessen Fahrer noch an der Unfallstelle starb.

Seit diesem Urteil tobt der Streit unter den Juristen. Wann wird der Autofahrer zum Mörder? Im Zentrum des Streits steht die Frage: Wann handelt ein Täter vorsätzlich, wann nur fahrlässig? Daran entscheidet sich, ob der Tatbestand des Mordes erfüllt sein kann. Nur wer den "Taterfolg", also den Tod eines anderen Menschen, zumindest, wie es in der Juristensprache heißt, "billigend in Kauf nimmt", kann wegen Mordes verurteilt werden. Und auch nur dann, wenn eines der im Gesetz definierten Mordmerkmale hinzukommt: das Motiv der Habgier, der Verdeckung einer anderen Straftat oder ein sonstiger "niedriger Beweggrund", Heimtücke oder besondere Grausamkeit, oder die Benutzung eines "gemeingefährlichen Mittels".

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In vier Fällen hat der Bundesgerichtshof (BGH) bisher geurteilt. Jeder dieser Fälle liegt ein bisschen anders, und entsprechend unterschiedlich fielen die Entscheidungen aus. Für alle aber gilt, was der BGH zur Frage des "bedingten Tötungsvorsatzes" ausgeführt hat, also des "billigenden Inkaufnehmens". Dazu bedürfe es, sagt der BGH, eines "Wissenselements" - der Täter müsse den Tod als "mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennen" - und eines "Willenselements". Er müsse die Todesfolge billigen, oder, und jetzt wird es ganz schwierig, "sich zumindest mit dem Eintritt des Todes abfinden, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein".

Man kann also etwas "billigend in Kauf nehmen", auch wenn es "an sich unerwünscht" ist? Das ist eine Dialektik, die nicht nur dem juristischen Laien zu schaffen machen dürfte. Jedenfalls, so der BGH, müsse sich das Gericht, um richtig zwischen "bedingtem Vorsatz" und "bewusster Fahrlässigkeit" abzuwägen, in jedem Einzelfall mit der Persönlichkeit des Täters, seiner psychischen Verfassung, seiner Motivation und den konkreten Tatumständen befassen.

Der Berliner Fall

Das Berliner Mordurteil vom Februar 2017 fand keine Gnade vor den Bundesrichtern. Das Landgericht hatte festgestellt, dass die beiden Raser ihren bedingten Tötungsvorsatz erst in dem Augenblick gefasst hätten, als sie mit Höchstgeschwindigkeit in die Kreuzung einfuhren, wo es zur tödlichen Kollision kam. Da aber hätten, schrieben die Berliner Richter, die Täter keinerlei Möglichkeit mehr gehabt, das Geschehen abzuwenden, sie seien "absolut unfähig gewesen, noch zu reagieren". Wenn das so ist, argumentierte der BGH, dann gebe es kein von einem Tötungsvorsatz getragenes Verhalten der Angeklagten - sie seien in dem Moment, in dem sie den Tötungsvorsatz fassten, schon handlungsunfähig gewesen. Das Urteil wurde aufgehoben, der Fall ging an das Berliner Landgericht zurück.

Am 26. März 2019 verurteilte eine andere Kammer des Landgerichts die beiden Angeklagten erneut wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Die Richter hatten die BGH-Entscheidung sorgfältig studiert. Sie verlegten den Zeitpunkt, zu dem die Angeklagten den bedingten Tötungsvorsatz gefasst hätten, einfach um wenige Sekunden nach hinten, als die beiden Autos etwa 250 Meter vom Unfallort entfernt waren. Da hätten die beiden Raser, so das Gericht, angesichts der roten Ampel noch die Chance gehabt, ihre Fahrzeuge per Vollbremsung zum Stehen zu bringen. Stattdessen gaben sie Vollgas. Als Mordmerkmale nannten die Richter Heimtücke, einen niedrigen Beweggrund und den Gebrauch eines gemeingefährlichen Mittels: des Autos.

Die Verteidiger haben auch gegen dieses Urteil Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist.

Der Frankfurter Fall

In Frankfurt am Main hatte am 22. April 2015 ein 20-Jähriger in einem Mietwagen mit 142 Stundenkilometern eine rote Ampel überfahren und ein aus der Gegenrichtung abbiegendes Fahrzeug gerammt, dessen Fahrer noch an der Unfallstelle starb. Das Landgericht Frankfurt verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung und Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Jugendstrafe von drei Jahren. Die Richter hielten es für ausgeschlossen, dass der 20-Jährige einen Zusammenstoß mit tödlichem Ausgang billigend in Kauf genommen habe, weil er damit auch seinen eigenen Tod in Kauf genommen hätte, zumal da er nicht angeschnallt war.

Dem widersprachen die Bundesrichter. Es gebe keine generelle Regel, wonach das Risiko bei einer Kollision so gleichmäßig verteilt sei, dass die Inkaufnahme des Todes eines anderen Unfallbeteiligten zwangsläufig auch die Inkaufnahme des eigenen Todes bedeute. Das Urteil wurde aufgehoben und der Fall an das Landgericht Frankfurt zurückverwiesen. In der neuen Verhandlung wurde der Angeklagte wegen Totschlags zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das Gericht bejahte den bedingten Vorsatz, erkannte aber kein Mordmerkmal. Auch dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Der Bremer Fall

Bestätigt hat der Bundesgerichtshof dagegen ein Urteil des Landgerichts Bremen, das einen Motorradfahrer wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt hatte. Der Angeklagte war mit seinem 200 PS starken Motorrad regelmäßig mit stark überhöhter Geschwindigkeit im Stadtgebiet Bremen unterwegs. Von seinen Ausfahrten machte er mit einer Helmkamera Videos, die er ins Internet stellte. Am 17. Juni 2016 fuhr er spät abends mit fast 100 Stundenkilometern auf eine Ampel zu, die gerade von Grün auf Gelb umsprang, als ein 57-Jähriger von rechts über die Straße ging, obwohl die Ampel für ihn noch Rot zeigte. Der Motorradfahrer bremste sofort, erfasste aber den Fußgänger und verletzte ihn tödlich.

Ähnlich wie im Frankfurter Fall werteten die Richter den Umstand, dass der Motorradfahrer sich auch selbst gefährdete, als Indiz dafür, dass er den tödlichen Ausgang des Unfalls nicht billigend in Kauf nahm. Anders als im Frankfurter Fall beanstandete der BGH das Bremer Urteil nicht - erstens, weil der Angeklagte als Motorradfahrer objektiv mehr gefährdet war als ein Autofahrer, zweitens, weil er durch die Vollbremsung gezeigt habe, dass er einen Zusammenstoß vermeiden wollte. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Der Hamburger Fall

Das Landgericht Hamburg verurteilte im Februar 2018 einen 24-jährigen Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Der Mann war in einem gestohlenen Taxi in der Hamburger Innenstadt auf der Flucht vor der Polizei und fuhr dabei mit 155 Stundenkilometern auf die Gegenfahrbahn. Dort rammte er den Bordstein, verlor die Kontrolle über das Fahrzeug und stieß frontal mit einem Taxi zusammen. Einer der Insassen des Taxis starb, zwei wurden schwer verletzt.

Das Gericht urteilte, der Angeklagte habe, weil er der Polizei entkommen wollte, bewusst einen Frontalzusammenstoß und damit auch den Tod anderer und seinen eigenen Tod billigend in Kauf genommen. An dieser Argumentation fand der BGH nichts auszusetzen. Es ist bisher der einzige Fall, in dem eine Verurteilung wegen Mordes nach einem tödlichen Zusammenstoß rechtskräftig wurde.

© SZ vom 12.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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