Prozess um Rentner am Steuer:Zwei Tote, 27 Verletzte: Wie viel Schuld trägt der 85-jährige Autofahrer?

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Der Angeklagte war Anfang Mai 2016 mit seinem Wagen in eine Menschenmenge in der Altstadt von Bad Säckingen gefahren. (Foto: dpa)

Ein Rentner steuert in Bad Säckingen sein Auto in ein Café. Nun steht der Mann vor Gericht. Die Frage ist: Welche Rolle hat sein Alter bei dem Unfall gespielt?

Von Moritz Geier, Bad Säckingen

Er wird nicht mehr sprechen über das, was geschehen ist, die Wucht der Ereignisse hat ihm die Kraft geraubt. Gebeugt, mit schwerem Atem sitzt er neben seinem Verteidiger, der die Worte verliest, die sein Mandant sich von der Seele geschrieben hat. 1931 geboren, heute 85 Jahre alt, immer rechtschaffen, nie einen Unfall gehabt. Und jetzt? Es wäre besser, hat er geschrieben, er hätte den Unfall nicht überlebt.

Vor dem Amtsgericht Bad Säckingen muss der Mann sich verantworten, weil zwei Menschen tot sind. Zwei Menschen, die er fahrlässig getötet haben soll, dazu 27 fahrlässig verletzt, so lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Ein Jahr ist jener Tag nun her, der das an der Grenze zur Schweiz, eher abseits vom Weg liegende Bad Säckingen in die Nachrichtenspalten des Landes rückte. Ein Mann, war zu lesen, sei mit seinem Škoda in eine Menschenmenge geschossen, in einem engen Gässchen der Innenstadt, hinein in die Tische, die vor einem Café standen, und in die Gäste, die dort saßen. Eine 63-jährige Frau und ein 60 Jahre alter Radfahrer kamen ums Leben.

All das muss das Gericht nun aufarbeiten. Der Name des Angeklagten von Bad Säckingen soll hier nicht genannt werden, denn die Identität des Mannes ist nicht der Grund, warum der Unfall deutschlandweit Schlagzeilen machte und eine schon schwelende Debatte neu befeuert hat.

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Hätte der Unfall verhindert werden können?

Der Grund ist das hohe Alter des Autofahrers und die Frage, ob es eine Rolle spielt in Unfällen wie diesem. In Bad Säckingen wird nicht nur der möglicherweise fatale Fahrfehler eines alten Mannes verhandelt, Schuld und Schicksal eines Einzelnen. Es geht auch um die Frage, ob der Unfall hätte verhindert werden können. Und wenn ja: von wem?

Jener sommerliche Maitag im Jahr 2016 hätte ein so schöner Tag werden sollen. Er habe sich gut gefühlt, schreibt der Angeklagte, mit seiner Frau und seiner Stiefenkelin wollte er ein Restaurant besuchen. Weit ist das Lokal nicht entfernt von seiner Wohnung, aber seine Frau tut sich mit dem Laufen schwer. Also das Auto. Suche nach einem Parkplatz, Schritttempo durch die Gassen der Altstadt, Kopfsteinpflaster. Was dann passiert, im Bruchteil einer Sekunde, Ortszeit 12.13 Uhr, ist wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen und Erinnerungslücken nur schwer zu rekonstruieren.

Ein Radfahrer, trägt Staatsanwältin Natalie Rünzi vor, kollidiert mit dem Auto, wird von der Wucht des Aufpralls auf die Windschutzscheibe gepresst und über das Dach des Autos geschleudert. Beim Versuch zu bremsen, habe der damals 84-Jährige das Gaspedal durchgedrückt. Der Wagen beschleunigt, rast in die Tische vor dem Straßencafé. "Ich bin erschrocken, wollte bremsen, und bin wahrscheinlich abgerutscht", liest Verteidiger Michael Vogel aus der Erklärung seines Mandanten vor. Eine Bewegung nur, linkes oder rechtes Pedal, fehlgeschlagene Routine in Millisekunden.

Unfallforscher kennen die Geschichten, sie wiederholen sich, gleichen sich in Ursache und Wirkung. Bremse mit Gas verwechselt, Vorwärtsgang mit Rückwärtsgang, den Fuß nicht schnell genug vom Gaspedal genommen, zu spät die Bremse gedrückt, Irrtümer aus Überforderung. Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass Menschen über 75 drei von vier Unfälle, an denen sie beteiligt sind, selbst verursachen - ein höherer Wert als bei Fahranfängern. Noch sind die absoluten Unfallzahlen bei Senioren geringer, aber die Statistiken von heute, argumentieren die Forscher, fallen schon morgen dem demografischen Wandel zum Opfer. Die Gesellschaft wird immer älter, auch ihre Autofahrer. Muss das Gesetz in diesem Fall den Menschen schützen - auch den Menschen vor sich selbst?

In vielen anderen Ländern Europas sind medizinische Pflichtuntersuchungen oder verpflichtende Testfahrten von einem bestimmten Alter an längst eingeführt. Laut ADAC gilt der Führerschein in Dänemark, Großbritannien oder der Schweiz nur bis zum 70. Lebensjahr. Wer verlängern will, muss sich von einem Arzt untersuchen lassen. In Italien, Luxemburg und den Niederlanden ist der Führerschein ohnehin auf zehn Jahre befristet. Von einem gewissen Alter an sind dann regelmäßige Überprüfungen erforderlich. Doch in Deutschland wirkt der Führerschein wie ein unbegrenztes Freiheitsversprechen. Das Bundesverkehrsministerium lehnt verpflichtende Tests ab, findet, dass ältere Fahrer ihre Fahrtauglichkeit selbst einschätzen können oder freiwillig überprüfen lassen sollen, eine Haltung, die die Verantwortung nicht nur auf die Autofahrer selbst, sondern auch auf deren Umfeld schiebt. Angehörige etwa.

Die Stiefenkelin des Unglücksfahrers von Bad Säckingen saß im Auto, sie hat alles mitbekommen, den Knall, die Splitter, das Blut. Ob ihr vorher etwas aufgefallen sei am Großvater, fragt Richterin Margarete Basler. War er gebrechlicher? Der Gang schwerer? Nein, sagt die Enkelin, alles wie immer. Diskussionen, bestätigt Verteidiger Vogel, habe es in der Familie nie gegeben, weil er bisher so tadellos gefahren sei.

Er hat keine Angst vor dem Urteil, er empfindet keine Freude mehr

Immer wieder stellt die Richterin Fragen zur Gesundheit des Angeklagten. Sie muss lauter sprechen dabei, weil der Mann nur schwer hören kann. "Altersbedingte Einschränkungen", sagt die Staatsanwältin etwas sperrig, könnten zur Fahrlässigkeit der Handlung beigetragen haben. "Ein 20-Jähriger hätte wahrscheinlich anders reagiert", wird Vogel später vor dem Gerichtssaal sagen.

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Das Gericht muss nun klären, ob der Vorwurf der Fahrlässigkeit zutrifft. Muss feststellen, ob der Radfahrer eine Mitschuld trägt, ob er von links kam, muss eruieren, ob einer der beiden zu schnell war. Der Prozess wird am 9. Mai fortgesetzt, am Tag darauf soll ein Urteil fallen. Für fahrlässige Tötung liegt die Höchststrafe bei fünf Jahren Freiheitsstrafe. Der alte Mann auf der Anklagebank hat keine Angst vor dem Urteil, lässt er von seinem Verteidiger mitteilen. Nach dem Unfall wollte er sich das Leben nehmen, er empfindet keine Freude mehr, fürchtet die Nächte. Nur die Hoffnung bleibe, dass ihm irgendwann verziehen werde.

© SZ vom 03.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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