Prozess:Frei von Gefühlen

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Im März tötete der 19-Jährige Marcel H. einen Nachbarsjungen und einen Schulfreund. Nach den Taten prahlte er via Smartphone mit Fotos. Nun steht er vor Gericht.

Von Christian Wernicke, Bochum

Marcel H. wirkt, als ginge ihn das alles nichts an. Mit kleinen Schritten tritt er an diesem Morgen durch die Tür, sein Blick bleibt nirgendwo hängen in Saal C240 des Bochumer Landesgerichts. Nicht mal die Fotografen, die im Dutzend ihre Objekte auf ihn richten, scheint der blasse, dünne 19-Jährige wahrzunehmen. Nicht die kleinste Reaktion, auch nicht, als der Staatsanwalt ihm später vorwirft, er habe getötet "in dem Streben, einen Menschen sterben zu sehen". Marcel H. wird an diesem Freitag nur zwei Worte über die schmalen Lippen bringen. Nach Verlesung seiner Personalien nickt er kurz und sagt: "Richtig so."

Er sieht anders aus, als die Welt ihn kennt. Im März, als Marcel H. in Herne zwei Menschen offenbar auf brutalste Weise ermordet hatte, fotografierte er sich neben den Opfern grinsend mit Glatze. Im Gefängnis hat er sein blondes Haar wachsen lassen, er trägt es ordentlich gescheitelt zu den Anstaltsklamotten; graues Sweatshirt, Schlabberhose, Badeschlappen. Die Arme verschränkt.

Vor sechs Monaten hatte ihn die Polizei drei Tage lang im Ruhrgebiet gejagt - und Tausende Schaulustige aus aller Welt fieberten im Netz mit. Denn Marcel H. hatte Bekannten in Bildern und O-Tönen über sein Smartphone von seinen Taten berichtet. Und weil die jene Dokumente auf die Website 4chan hochluden, noch während er auf der Flucht war, fand das Grauen rasch ein Publikum.

"Ich habe gerade den Nachbarn umgebracht, fühlt sich ehrlich gesagt gar nicht so besonders an", sagte Marcel H. in einer Audio-Nachricht, die er am Abend des 6. März über WhatsApp verschickte. Dazu ein Selfie, das ihn mit blutüberströmten Händen zeigte. Minuten nach seinem ersten Mord war das, da hatte er im Keller seines Elternhauses 52 Mal auf Jaden, den neunjährigen Nachbarsjungen, eingestochen. Marcel H. redete weiter: "Vielleicht locke ich noch einen Nachbarn rüber und mache das Gleiche. Dann habe ich zwei Morde auf'm Hals." Tatsächlich wurde er elf Stunden später zum Doppelmörder: Sein zweites Opfer ist Christopher W., ein 22-jähriger Berufschulkamerad. An dessen Leichnam zählen die Gerichtsmediziner später 68 Stichwunden.

Auf der Anklagebank: Marcel H. und sein Verteidiger Michael Emde. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Diesen Blutrausch nüchtern aufzuarbeiten, das ist nun die Aufgabe von Stefan Culemann, Richter am Bochumer Landgericht. Am Tathergang gibt es laut Aktenlage keine Zweifel: Nach seiner Festnahme in einem Imbiss am 9. März hat Marcel H. alles erzählt. "Selbstbewusst, eiskalt, sehr emotionslos", erlebte ihn Klaus-Peter Lipphaus, der Leiter der Bochumer Mordkommission, damals beim Geständnis.

Ähnlich beschreibt ihn auch sein Verteidiger Michael Emde. Er erklärt vor Gericht, sein Mandat werde sich "jedenfalls zunächst, nicht äußern". H. trete "den Anklagevorwürfen in tatsächlicher Hinsicht nicht entgegen". Einfacher ausgedrückt: H. bestätigt seine gestandenen Taten, aber er bekennt sich nicht schuldig als Mörder. Sein Mandant bitte das Gericht zudem, seine "unangemessene Kleidung zu entschuldigen". Aber keiner aus seiner Familie habe ihm etwas Besseres vorbeibringen wollen.

In keinem seiner vielen Gespräche im Gefängnis, so erzählte Emde der SZ vor dem Prozess, habe sein Mandat "irgendein Gefühl" gezeigt. Auch mit den Haftbedingungen - zum Schutz vor Racheakten von Mitgefangenen sitzt Marcel H. in Einzelhaft - habe er nie gehadert: "Kein Jammern, nicht mal im Subtext - er wirkt völlig kontrolliert." Das Motiv der Tat bleibt auch für Emde "im Dunkeln". Aber es stimme wohl "die Deutung, die die Mordkommission im März verbreitete". Damals hatte H. ausgesagt, er habe sich ursprünglich selbst töten wollen: Aus Verzweiflung darüber, dass der Traum von einer Karriere als Sanitäter bei der Bundeswehr samt Medizinstudium an seiner Sehschwäche gescheitert war. Nachdem ein Suizidversuch misslungen war, richtete er seine Aggression demnach gegen Unschuldige.

Einige Meter entfernt von Marcel H. sitzt an diesem Tag Jeanette R. Die Frau mit den rotgefärbten Haaren ist die Mutter von H.s erstem Opfer Jaden. Minutenlang betrachtet sie den Mörder ihres Sohnes, ruhig, trotzig, aber nicht böse. "Ich bleibe stark, für Jaden", sagt sie in einer Sitzungspause. Sie werde den Prozess durchstehen, "der kriegt meinen Zusammenbruch nicht, auch nicht meine roten Augen". Eigentlich sucht sie doch nur die Antwort auf eine Frage: Warum?

Die Anklage unterstellt "Mordlust". Laut Gutachten zweier Rechtspsychologen ist Marcel H. voll schuldfähig. Offen scheint also nur die Frage, wie das Gericht die Tat bewertet, und davon ausgehend das Strafmaß. Verurteilt das Gericht ihn als Erwachsenen, könnte ihn lebenslange Haft erwarten. Nach Jugendstrafrecht droht ihm die Höchststrafe von 15 Jahren.

Marcel H. wird nach diesem Prozess also dort landen, wo er hinwollte: Er wolle "etwas Knastwürdiges" anstellen, hatte er im März Minuten vor seinem ersten Mord seinen Bekannten über WhatsApp wissen lassen. Er war stets ein Außenseiter gewesen, die eigene Schwester schimpfte ihn einen "absoluten Psycho", ein Klassenkamerad einen "Klugscheißer". In seiner digitalen Kunstwelt von Computerspielen und japanischen Comicstrips aber fühlte er sich stark. An jenem 6. März vermischte er beide Welten.

Er tötete - und prahlte im Netz. Er werde dem Freund "4chan-reife Bilder" schicken, kündigte er seinem Bekannten an, das war am 6. März um 17.59 Uhr. Eine dreiviertel Stunde später lag der neunjährige Jaden tot in seinem Blut. Um 18.55 schickte H. einem Freund sein erstes Mörder-Selfie. Am Morgen des 7. März tötete er seinen Kumpel W., bei dem er Unterschlupf gesucht hatte. Um 15.37 lud ein anonymer Freund Hs Fotos vom entstellten Leichnam seines zweiten Opfers ins Netz. Für 21 Uhr prophezeite er "das große Finale". Tatsächlich kursierten abends gegen neun Uhr die ersten Meldungen von der Verhaftung in der Pommes-Bude.

Der Prozess ist bis Mitte Oktober angesetzt.

© SZ vom 09.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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