Eigentlich sind die Vergehen, die der Staatsanwalt an diesem Mittwochvormittag bewerten muss, recht übersichtlich. Ein Ladendiebstahl in Dortmund: ein T-Shirt, zwei Hosen. Ein bestohlener Bahnfahrer, dem der Angeklagte den Koffer wegnahm. Und dann die Fotokamera, entwendet in einer großen Menschenmenge, von mehreren Tätern. Nur: Letzteres geschah am Silvesterabend in Köln.
Also erhebt sich der Staatsanwalt zu einer Vorbemerkung: "In normalen Zeiten hätten wir hier in aller Kürze verhandelt", sagt er. "Es sind aber keine normalen Zeiten." Die Weltöffentlichkeit, so sagt es der Staatsanwalt, schaue auf Köln.
Ein Sexualdelikt steht nicht zur Anklage
Dort stehen am Mittwoch - in zwei getrennten Verhandlungen - erstmals drei junge Männer vor Gericht, die an Silvester im Umfeld des Kölner Hauptbahnhofs Feiernde bestohlen haben. Erstmals Täter also, wenn man so will, aus jener Nacht, in der auch zahlreiche Frauen von Gruppen mutmaßlich nordafrikanischer Männer sexuell bedrängt worden waren.
Sechs Kamerateams quetschen sich in den Saal des Amtsgerichts, dazu ein Pulk aus Fotografen und Journalisten. "Kuscheljustiz" hat der Staatsanwalt in den vergangenen Tagen in der Zeitung gelesen. "Falsch wäre, hier ein Exempel zu statuieren", sagt er deshalb, doch am Ende dieses Tages ist es auch Ansichtssache, ob der Justiz das tatsächlich gelungen ist.
In der ersten Verhandlung verurteilt der Amtsrichter Amand Scholl den 23 Jahre alten Marokkaner Younes A. zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung und einer Geldauflage von 100 Euro. Eine harte Entscheidung für einen Ersttäter und für das Delikt, das ihm vorgeworfen wurde: Handydiebstahl. Als eine Touristin um 23.15 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz ihr Smartphone in die Luft streckte, um den Dom zu fotografieren, schnappte es A. und rannte davon. Sie folgte ihm zusammen mit einem Mann, bis jemand ihm ein Bein stellte. Als er auf dem Boden lag, holte er das Gerät aus seiner Hosentasche und gab es zurück. Auf der Wache fanden die Beamten ein Tütchen Amphetamine zwischen seinen Zehen.
Younes A. sagt, er besitze keinen Ausweis, nur eine Bescheinigung über seinen Asylantrag. Ausgestellt am 18. Dezember 2015. Abgelaufen am 29. Dezember 2015. A. war zwei Tage vor Silvester beim Schwarzfahren erwischt worden, einen Tag später soll er in Bochum jemanden bestohlen haben, die Polizei ermittelt. Ob er auch den Po der Touristin begrapscht habe, will der Richter wissen. Das habe sie gar nicht gesagt, entgegnet die junge Frau. "Was hat das mit meinem Mandanten zu tun?", fragt der Verteidiger. Ein Sexualdelikt steht nicht zur Anklage.
In der Urteilsbegründung sagt Richter Scholl, es zeige sich bei Younes A. nicht nur durch seine Taten, dass er "es mit den Vorschriften, die in diesem Land gelten, nicht allzu ernst" nehme. Er habe auch "erkennbar" seinen Ausweis weggeworfen, um seine spätere Abschiebung zu verhindern. Schließlich sei er, wie Scholl glaubt, kein politisch Verfolgter. Die Anerkennungsquote von Marokkanern sei bekanntermaßen niedrig.
Die Staatsanwältin hatte einen Bewährungshelfer gefordert, A. wirke "führungslos". Das sei eine Chance für ihn. Scholl lehnt den Helfer ab: "Einen Bewährungshelfer habe ich nicht beigeordnet. der könnte mit Ihnen auch gar nicht zusammenarbeiten, schon aus sprachlichen Gründen", sagt er. A. solle sich bei der Ausländerbehörde melden.
"Heute hört man nur noch: 'Was ist bei euch in Köln los?'"
Zum Abschluss möchte Scholl noch etwas loswerden. "Als ich vor einigen Jahren das Weiße Haus in Washington besucht habe, wurde ich angesprochen: 'Ist jemand aus Köln hier? Köln war die schönste Stadt meiner Europareise. Sagen Sie das den Leuten.' Das tue ich hiermit", sagt er: "Heute hört man nur noch: 'Was ist bei euch in Köln los?' Die Antwort für einiges von dem sollte diese Hauptverhandlung geben."
Die zweite Verhandlung leitet die Richterin Julia Roß. Die angeklagten Männer sitzen in Jacken auf ihren Stühlen, einer kann keine Angaben zu seinem Geburtsort machen, und auch der Name in der Anklage sei falsch. Er habe die Polizei belogen. 22 Jahre ist er alt, der andere heißt Samir S., 18, Marokkaner. Auch sie bekommen Bewährungsstrafen, unter anderem wegen des gemeinschaftlichen Diebstahls der Kamera: drei Monate für den älteren der beiden, weil seine unklaren Aussagen besonders schwer wögen, sagt die Richterin. Ein solches Urteil müsse sie schließlich gut begründen, ergänzt sie.
Samir S., der jüngere, muss zwei Jahre straffrei bleiben, sonst droht ihm eine Jugendstrafe. Die Richterin verhängt Auflagen: Beide Männer sollen sich bei einem Dortmunder Bewährungshelfer melden. Er soll ihnen helfen, ihren Asylantrag zu stellen und eine Einrichtung zu finden, in der sie je 60 Sozialstunden ableisten könnten, selbst wenn sie kein Deutsch sprechen. Außerdem müssen beide an einem Deutschkurs teilnehmen: "zur Förderung der Integration".
Die Prozesse am Mittwoch waren wahrscheinlich nur ein Anfang: Etwa 1100 Anzeigen sind nach der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof gestellt worden, knapp 80 Männer stehen im Verdacht.