Die verworrenen Geschehnisse sollen sich in einer Mühle in einem kleinen Ort in Ostthüringen zugetragen haben. Sie ist der Lebensmittelpunkt der angeklagten Psychiaterin und ihrer Lebensgefährtin. Die beiden bieten dort Heiltherapien und esoterische Gesprächskreise an. In der Umgebung sind sie außerdem bekannt, weil sie sich für die Rechte von Frauen und speziell von Müttern engagieren. Die promovierte Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychologie ist nun angeklagt, in der Mühle unter anderem ein Rentnerpaar monatelang festgehalten zu haben. Vor allem den damals 82-jährigen Mann soll sie misshandelt und drangsaliert haben.
Der Anklage zufolge ist die Tochter des Rentnerpaares im vergangenen Jahr vorübergehend mit ihren bereits erwachsenen Kindern in der Mühle eingezogen und hat dort an den therapeutischen Gesprächen teilgenommen. Dabei soll ein möglicher sexueller Missbrauch innerhalb der Familie thematisiert worden sein. Demnach soll der Vater der Frau seine Tochter und deren Kinder missbraucht haben. Die Frau hat dies zu einem späteren Zeitpunkt wiederrufen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Psychiaterin den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch suggestive Fragetechniken hervorgerufen hat.
Im Juni 2016 wollen der 83-jähriger Vater und seine Ehefrau die Familie in der Mühle besuchen. Was dann passiert, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Klären muss das Geschehen der Prozess, der am heutigen Montag vor dem Landgericht Gera beginnt. Die Staatsanwaltschaft wirft der Psychiaterin nicht nur Geiselnahme, sondern auch Erpressung, Nötigung, gefährliche Körperverletzung und üble Nachrede vor.
Der Anklage zufolge wurden die beiden Senioren monatelang in der Mühle festgehalten. EC-Karte und Handy seien ihnen abgenommen worden. Die Psychiaterin unterzog den Vater einer vermeintlichen Therapie, die ihn zu einem "neuen Menschen" machen sollte. Während der Sitzungen soll sie ihm gedroht haben, den angeblichen sexuellen Missbrauch öffentlich zu machen. Er wurde geschlagen und mit Filmaufnahmen von Missbrauchsfällen konfrontiert. Für eine Wiedergutmachung der angeblichen Tat soll er genötigt worden sein, sein Vermögen an die Tochter und Enkelkinder zu überschreiben.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Psychiaterin daraufhin aus der Wohnung des Vaters Bargeld und Wertsachen im Wert von 71 000 Euro geholt habe. Als im Oktober 2016 der geschiedene Ex-Mann der hilfesuchenden Mutter in der Mühle auftaucht, soll die Psychiaterin auch diesem sexuellen Missbrauch vorgeworfen haben. Laut Anklage wurde er auf einen Stuhl gefesselt und geschlagen. Dennoch gestand er das angebliche Verbrechen nicht - und wurde auch in der Mühle festgehalten. Erst nach einem Polizeieinsatz Ende Oktober erlangten die Drei ihre Freiheit zurück.
Die angeklagte Psychiaterin streitet die Vorwürfe in einer verlesenen Erklärung ab. "Das Bild, das die Anklage zeichnet, ist vernichtend", sagt Rechtsanwältin Stefanie Burgold. Niemals sei die Ärztin so manipulativ und gefühlskalt gewesen, wie sie beschrieben worden sei. Die Anwältin zeichnet vor Gericht ein ganz anderes Bild ihrer Mandantin: In der DDR von der Stasi verfolgt, habe sie sich nach der Wende für die Opfer des Spitzelapparats eingesetzt. "Es sitzt die falsche Person hier auf der Anklagebank", sagt Burgold. Die von der Staatsanwaltschaft behauptete Geiselnahme, eine Erpressung oder Freiheitsberaubung sowie Körperverletzungen habe es niemals gegeben.
Der MDR hatte zuvor berichtet, nach Angaben der angeklagten Psychiaterin habe sie eine "konfliktarme" Aufarbeitung des Missbrauchs verfolgt. Demnach habe sie den Vater lediglich zu einer Stellungnahme bewegen wollen. Sie sitzt seit dem Polizeieinsatz in Untersuchungshaft. Im Falle einer Verurteilung drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft.
Der Prozessbeginn hatte sich am Montagvormittag verzögert. Die Verteidigung der Ärztin rügte mit Erfolg die Besetzung der Strafkammer. Denn ein ursprünglich vorgesehener Schöffe war wegen Verhinderung durch eine Schöffin ersetzt worden. Allerdings war der Grund der Verhinderung in den Akten nicht dokumentiert, was zunächst zum Abbruch der Verhandlung führte. Das Gericht besorgte dann aber eine zweite Ersatzschöffin, die von den Anwälten zwar ebenfalls abgelehnt wurde. Doch diesmal wies das Gericht die Besetzungsrüge ab. Prozessbeobachter gehen davon aus, dass sich der Prozess in den kommenden Wochen weiter zäh entwickeln wird.