Neue Identität:Gefangen in der Anonymität

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Der Wagen mit den Geiselnehmern wird 1988 in Köln von Journalisten umringt. (Foto: dpa)

Dieter Degowski, der Gladbecker Geiselnehmer und Mörder, soll im Falle seiner Freilassung einen neuen Namen bekommen. Aber nicht nur Verbrecher, sondern auch einige Opfer und Zeugen leben mit falschen Papieren - oft ist das für die Betroffenen eine Belastung.

Von Annette Ramelsberger

Das Bild von Dieter Degowski hat sich eingebrannt in die deutsche Kriminalgeschichte. Dieser Mann, die Zigarette lässig im Mundwinkel, die Pistole hart am Hals seiner Geisel Silke Bischoff, ein Muttermal unterm Auge. Ein Bild, das die Menschen, die 1988 das Geiseldrama von Gladbeck miterlebt haben, nicht mehr vergessen: Degowski und sein Komplize Hans-Jürgen Rösner hatten in Gladbeck eine Bank überfallen, in Bremen einen Bus gekapert, waren über die Niederlande bis in die Kölner Innenstadt gefahren, immer weiter, bis sie die Polizei auf der Autobahn überwältigte. Silke Bischoff kam in dem Auto um, zuvor schon hatte Degowski eine andere Geisel, den 15-jährigen Emanuele De Giorgi, getötet.

Nun, nach 29 Jahren in Haft, hat Degowski den Antrag gestellt, aus der Haft entlassen zu werden. Noch ist darüber nicht entschieden. Aber eines ist schon klar: Wenn er freikommt, wird er einen neuen Namen bekommen. Das zuständige Einwohneramt hat dem zugestimmt. Das soll der Resozialisierung des Häftlings dienen.

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Der zu lebenslanger Haft verurteilte Dieter Degowski hat Antrag auf Freilassung gestellt. Ein neuer Name soll seine Rückkehr in die Gesellschaft erleichtern.

Degowski, inzwischen 61, ist nicht der Erste, der nach der Haft einen neuen Namen bekommt. Es gibt in Deutschland viele Menschen, die mit echten Papieren unter falschem Namen leben - mit Billigung der Behörden. Die frühere RAF-Terroristin Brigitte Mohnhaupt zum Beispiel, die im Jahr 2007 nach ihrer Haft einen neuen Namen bekam und dennoch aufgespürt wurde. "Ich bin froh, anonym zu leben", beschwor sie die Reporter der Bild-Zeitung und sagte, sie sei dem deutschen Staat, den sie einst so sehr bekämpft hatte, dankbar: "Die haben schon einiges für mich getan."

Der deutsche Rechtsstaat verbannt selbst seine schlimmsten Feinde nicht in alle Ewigkeit, er setzt auf Resozialisierung, er hilft Straftätern aktiv dabei, in die Gesellschaft zurückzukehren. Er schränkt dafür sogar die Freiheit anderer ein. So haben Gerichte wiederholt verboten, die Namen der zwei Täter zu nennen, die den Münchner Schauspieler Walter Sedlmayr getötet haben - damit sie wieder Fuß fassen können im Leben. Viele Medien strichen die Namen in ihren Archiven. Erst der Bundesgerichtshof entschied 2009, dass die Verurteilten keinen Anspruch auf Entfernung ihrer Namen haben, das wäre eine unzulässige Beschneidung der Medienfreiheit. Andere Straftäter aber haben vor Gericht durchgesetzt, dass kein aktuelles Bild mehr von ihnen gezeigt werden darf - auch das zu ihrer Resozialisierung.

Die frühere RAF-Terroristin Susanne Albrecht, die es der RAF ermöglichte, 1977 den Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto zu töten, einen Freund ihrer Familie, war 1991 zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Mit den Fotos auf den Fahndungsplakaten aus den Siebzigern hat die Frau heute nichts mehr zu tun, mit der Frau vor Gericht schon eher. Im März 2007 setzte sie vor dem Oberlandesgericht Hamburg durch, dass die Veröffentlichung eines Fotos von diesem Prozess untersagt wird. Sie hatte damit argumentiert, dass sie ein Recht auf einen Neuanfang habe. Das Gericht gab ihr recht: Hinter dem Resozialisierungsinteresse von Albrecht müsse das Interesse an einer Bildberichterstattung über die RAF-Prozesse zurücktreten.

Susanne Albrecht hatte als Kronzeugin gegen die RAF ausgesagt, der Staat tat daraufhin viel, um ihr die Rückkehr ins bürgerliche Leben zu erleichtern. Schon nach sechs Jahren kam sie frei. Sie arbeitete danach als Deutschlehrerin für ausländische Kinder in Bremen. Das Land sprach von einer "voll gelungenen Resozialisierung". Bremens langjähriger Bürgermeister Henning Scherf hatte sich persönlich darum gekümmert, dass alles geheim blieb.

Strikte Geheimhaltung, das ist der Schlüssel für das neue Leben. Denn neben resozialisierungswilligen Straftätern gibt es auch gefährdete Zeugen und auch Opfer von Verbrechen, die untertauchen müssen. Zum Beispiel die Familie des Münchner Attentäters David S.: Der 18-Jährige war im Sommer 2016 Amok gelaufen und hatte neun Menschen erschossen, bevor er sich selbst tötete. Er hinterließ Menschen voller Zorn, Trauer und Verzweiflung. Aber auch: eine Mutter, einen Vater, einen kleinen Bruder. Menschen, die weiterleben, ihr Geld verdienen, zur Schule gehen müssen. Auch die Familie des Münchner Attentäters hat einen neuen Namen bekommen, einen neuen Wohnsitz. Und die Familie musste einen Vertrag unterschreiben: Detailliert wird dort geregelt, was ihnen erlaubt ist und was nicht. Keine Besuche mehr am alten Wohnort, kein Plausch mit alten Freunden. Und: keinesfalls Kontakte zu den Medien.

Oft werden solche Menschen in andere Länder gebracht. "Aber das hat nichts mit einem tollen, neuen Leben auf Hawaii zu tun", sagt Ludwig Waldinger vom LKA Bayern, das eine "Zeugenschutz-Dienststelle" betreibt. Eher mit einem ziemlich kargen Leben in Paderborn. Oder in einer Kleinstadt in Österreich. Viele halten das dann gar nicht aus. Immer wieder kehren gefährdete Personen freiwillig dem Zeugenschutz den Rücken. Lieber haben sie ständig Angst, als ständig einsam zu sein. Denn ein solches Leben verlangt den Menschen viel ab: vor allem eiserne Disziplin. Und das über Jahre.

Giorgio Basile, ein Mafia-Mörder, der selbst mindestens 30 Menschen ermordet hatte, hat immerhin schon 19 Jahre überlebt. 1998 ist er ausgestiegen und hat in Deutschland gegen seine Bande ausgesagt, seitdem schwebt er in Lebensgefahr, wie seine Frau und seine Kinder. Nie mehr dürfen die Kinder die Oma in Italien besuchen. Immer kann ein Umzug notwendig werden, oft von einem Tag auf den anderen. Oft müssen solche Menschen ihr Aussehen verändern. Da werden Haaransätze gehoben, Nasen operiert. Die Familie ist völlig aufeinander bezogen, keiner darf sich verplappern. Familie Basile weiß, dass sie bis zu ihrem Lebensende von der Mafia gesucht werden wird. Die Polizei in Italien weiß es auch. Entsprechend hart sind die Schutzmaßnahmen. "Diese Leute werden geschützt, aber eigentlich leben sie in einem Gefängnis außerhalb des Gefängnisses", sagt LKA-Sprecher Waldinger.

Im Vergleich dazu ist ein neuer Name für Dieter Degowski eine ziemlich einfache Sache. Alte Haftentlassene wie er kommen oft in ein Männerwohnheim, Arbeit finden sie selten. Zurückfinden ins Leben müssen sie selbst. Ohne den Staat.

© SZ vom 16.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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