Lettland:Häuserkampf statt Musical

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Skundra-1 ist seit bald 20 Jahren für Lettland-Touristen eine beliebte Attraktion: eine gruselig-spannende Geisterstadt. Nun sollen dort demnächst Soldaten für den Ernstfall trainieren.

Von Frank Nienhuysen

Sogar der Basketball-Korb ist geplündert worden, splitternackt hängt das Brett in der früheren Turnhalle herum. Immerhin erkennt man so, dass der kastenförmige Raum mit dem aufgerissenen Boden keine Lagerhalle war. "Der Sieg beginnt hier", heißt es schwach lesbar an der Wand, aber das waren Allerweltssprüche zu Sowjetzeiten. Ansonsten hat die Siedlung zu bieten: verlassene, ausgestorbene Häuserblocks, streng in Reih und Glied, aber bestens durchlüftet, weil viele Fenster zerstört sind. Wandbilder mit Militärmotiven, etwa einem Soldaten, eine Hand zur Faust geballt, in der anderen eine Knarre. Patriotisch erzogen wird damit jedoch niemand mehr. Weil es, erstens, die Sowjetunion schon eine Weile nicht mehr gibt, und, zweitens, im Ort längst keine Menschenseele mehr lebt.

Skrunda-1 ist der Name einer ehemaligen sowjetischen Garnison gewesen, etwa zwei Autostunden von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt. Seit den Sechzigerjahren betrieben die Sowjets eine Radaranlage mit riesigen Aufklärungsschüsseln. Mehrere 1000 Menschen lebten im Ort, es gab eine Schule, einen Kindergarten, ein Krankenhaus, einen Supermarkt, zwei Nachtklubs. Und viel Geheimniskrämerei. Skrunda-1 war ein getarnter Ort, der auf keiner Landkarte stand. Geheim, mit einem Codenamen, wie es Dutzende gab zu Sowjetzeiten. 1998 zogen die letzten Soldaten fort, und Skrunda-1 blieb der Natur überlassen.

Eine Geisterstadt also, und weil das gruselig-spannend klingt, spazieren seit einem Jahr Touristengruppen durch das kniehohe Gras und die Plattenbau-Ruinen und lassen sich vor einem aufgemalten Lenin-Kopf fotografieren. Etwa 100 000 Menschen sind seit dem vergangenen Jahr bereits gekommen, die meisten sind Balten. Ein perfektes Ambiente auch für Musical-Videos, die dort gedreht wurden, für Absolventen der Filmhochschule. Aber sie werden künftig nicht mehr so ohne Weiteres kommen können. Die Anlage soll in den Besitz des lettischen Staates übergehen. Bald, so die Planung, werden Soldaten den Ort als Übungsgelände für realistisch wirkende Häuserkämpfe nutzen.

Das trostlose Gelände hatte vor sechs Jahren schon von sich reden gemacht, als es versteigert werden sollte. Erst erhielt eine dubiose russische Firma bei einer Auktion den Zuschlag, dann wurde dieser rückgängig gemacht und ein aserbaidschanischer Geschäftsmann kam ins Spiel, der sich jedoch auch zurückzog. Damals hoffte die Bürgermeisterin der zuständigen benachbarten Stadt Skrunda (ohne 1!) noch auf einen Investor, der ein Erholungsgebiet mit Cafés und Casino daraus macht. Aber die Pläne zerschlugen sich. Auch eine weitere Versteigerung der Geisterstadt scheiterte. "Letztendlich war keine der vielen Auktionen erfolgreich", sagt Didzis Strazdiņš, Sprecher der Stadt Skrunda.

Vor einem Jahr schließlich kaufte die Gemeinde den einstigen Stützpunkt. "Es sollte endlich eine gewisse Ordnung geben", sagt Strazdiņš. So kamen die Touristen - und die werden nun bald von Soldaten abgelöst. Sie kommen nicht nach Skrunda-1, der Codename ist offiziell eingetauscht gegen Mežaine. Aber die Bushaltestelle hat noch immer den Decknamen aus alter Zeit: Kombinat.

© SZ vom 10.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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