Kriminalität und Krimis in Island:"Zu viele Leichen sind schlecht"

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Friedliches Island. (Foto: Martin M303 - Fotolia)

Auf Island hat die Polizei zum ersten Mal in der Geschichte des Landes einen Menschen erschossen. Warum ist das so? Sind die Isländer derart friedliebend? Und was bedeutet das für die Krimi-Autoren dort? Ein Gespräch mit einem, der es wissen muss.

Von Lena Jakat

Anfang der Woche haben isländische Polizisten einen Menschen erschossen - zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Der Mann hatte aus noch unbekannten Gründen mit einem Jagdgewehr aus seinem Wohnungsfenster in Reykjavik gefeuert. Zwar besitzen viele Isländer eine Waffe, doch Gewaltverbrechen sind dort so selten wie fast nirgendwo anders auf der Welt. Polizisten sind in aller Regel unbewaffnet, die Isländer fühlen sich am äußersten Nordrand Europas sehr sicher. Woher kommen die niedrigen Kriminalitätsraten? Und was bedeutet das für die ambitionierten Krimi-Schriftsteller des Landes? Der Jurist Ragnar Jonasson hat gerade den fünften Band seiner Kriminalreihe veröffentlicht. Im Oktober erschien sein Buch "Todesnacht" auf Deutsch. Ein Gespräch über Weite, Enge und den Mangel an Leichen.

Süddeutsche.de: Herr Jonasson, gibt es in Island wirklich keine Verbrechen?

Ragnar Jonasson: Wir sehen uns selbst als sehr friedliches Volk und tatsächlich haben wir hier eine der niedrigsten Mordraten der Welt. Manchmal vergeht hier sogar ein ganzes Jahr ohne ein einziges Tötungsdelikt. Da können wir uns glücklich schätzen. Wir fühlen uns hier in Island sehr sicher.

Wie zeigt sich das?

Die Leute haben keine Angst, in der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Oft sperren sie ihre Tür nicht mal ab. Sogar im Zentrum der Hauptstadt Reykjavik lebt es sich sehr sicher. Aber dieses Gefühl ist natürlich auch eine Illusion. Auch in Island gibt es Verbrechen. Drogendelikte. Oder häusliche Gewalt , was allerdings oft nicht angezeigt wird, sondern hinter verschlossenen Türen bleibt.

Wie haben die Menschen auf die tödlichen Schüsse der Polizei reagiert?

Schockiert. Und voller Empathie für alle Beteiligten, auch für die Polizisten. Es ist eine große Tragödie. Weil gewaltsame Todesfälle so selten sind, wird jedes Mal groß über sie berichtet. Das öffentliche Entsetzen ist dann immer enorm - weil wir an Gewaltverbrechen einfach nicht gewohnt sind.

Sie sind eigentlich Anwalt. Haben Sie aus Mangel an straffällig gewordenen Klienten angefangen zu schreiben?

Nein, ich arbeite auch nicht als Strafverteidiger, sondern im Finanzrecht, an der Uni gebe ich außerdem Seminare zum Thema Urheberrecht. Etwas völlig anderes also. Ich schreibe, seit ich das erste Mal einen Stift in der Hand hielt. Und ich schreibe Krimis, weil es die Art von Literatur ist, die ich gerne lese. Ich frage zwar oft bei Kollegen nach, damit die Details in meinen Büchern alle korrekt sind. Aber insgesamt versuche ich, meinen Tag- und meinen Nachtjob strikt zu trennen.

Ragnar Jonasson ist Krimi-Autor aus Island. (Foto: Morgunblaðið/Ómar)

Fehlt es Ihnen durch den Mangel an realen Verbrechen auch an Inspiration?

EIn Krimi-Autor muss in Island kreativer sein als anderswo. Die große Herausforderung für mich als Autor ist es, in meinen Geschichten glaubwürdig zu bleiben. Zu viele Leichen sind schlecht, das wirkt schnell unrealistisch. Besonders in meinen Romanen, die in Siglufjörður spielen, einer realen kleinen Stadt im äußersten Norden des Landes, die hinter den Bergen versteckt liegt und nur durch einen Tunnel zu erreichen ist. Dort gibt es in Wirklichkeit praktisch gar keine Gewaltverbrechen.

Wird es da nicht langweilig in Siglufjörður?

Überhaupt nicht. Manchmal tauchen Fälle aus der Vergangenheit auf. Und meine Hauptfigur, der Polizist Ari Thor, bleibt nicht in der Stadt, sondern ermittelt in der ganzen Region. Außerdem versuche ich mich auf die psychologische Handlungsebene zu konzentrieren, das Innenleben meiner Figuren. Und wie bei meinen Kollegen sind es auch meine Bücher nie nur Krimis.

Sondern?

Fast immer wird auch ein sozialer Missstand thematisiert, ein gesellschaftliches Problem. Ich habe zuletzt zum Beispiel das Thema Menschenhandel aufgegriffen. Und natürlich spielt Island und die isländische Natur eine wichtige Rolle.

Sie haben in Island ja ziemlich viel Natur für wenige Menschen.

Womöglich hat die niedrige Kriminalitätsrate auch mit diesen Faktoren zu tun. Diese Weite der Natur - und die Überschaubarkeit der Gesellschaft. Es gibt ungefähr 320.000 Isländer. Jeder kennt jeden oder zumindest jemanden, der jemanden kennt. Viele Dinge werden da friedlich geregelt. Wir haben hier ein Auge aufeinander. Ein Auto zu klauen ist in Island zum Beispiel fast unmöglich. Es ist hier ja auch sehr schwierig, einfach zu verschwinden.

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