Mit einem Bagger suchen sie nach der Geschichte dieser Stadt. Die Schaufel taucht in das trübe Wasser der Grube ein, mal kommt sie mit einem Stück Beton heraus und mal mit einem schwarzen Klumpen aus Schlamm und Papier, auf dem man manchmal noch erkennen kann, was festgehalten wurde, in diesem Land, das es doch immer recht genau nahm, mit seinen Akten und Vermerken. "Zum Besuch von Verwandten bitte ich um Urlaub", schreibt ein Angestellter der Stadt Köln am 10. Juli 1901.
Man kann das noch ganz gut lesen, der Bagger hat die Akte gerade eben aus dem Wasser gefischt. Zwei Jahre lang lag sie dort, seit dem Einsturz des Kölner Historischen Archivs am 3. März 2009. Es war ein Unglück, von dem viele sagen, dass es so nur in Köln passieren konnte. In einer Stadt, in der man es nicht so genau nimmt, in der man auch die U-Bahn mit großer Lockerheit geplant hatte. Vor zwei Jahren stürzte ein Schacht ein und mit ihm das Stadtarchiv und ein Wohnhaus, zwei Menschen starben, 30 Kilometer Akten wurden verschüttet. Es ist die ganze Bandbreite, von den Personalakten der Stadt über die Nobelpreisurkunde von Heinrich Böll bis zu den Schriften des Albertus Magnus von 1258.
Wenn alles gut läuft im Berufsleben der Restauratorin Nadine Thiel, 29, dann wird sie kurz vor ihrer Rente eine Aktennotiz manchen, in der steht, dass nun alles wieder so ist wie früher. Zumindest, so gut es geht. Sie wird schreiben, dass nach vierzig Jahren und mit Kosten von 400 Millionen Euro etwa 95 Prozent der Akten und Handschriften der Stadt Köln gerettet werden konnten. Und die Geschichte der Rettung der Akten wird dann selbst ein Teil der Historie dieser Stadt, wandert ins Archiv. Thiel ist gelernte Papierrestauratorin, ein Beruf, der derzeit recht gefragt ist, von dem es aber zu wenige Menschen gibt, die ihn beherrschen. In Deutschland werden nur an drei Hochschulen Papierrestauratoren ausgebildet, ein Dutzend pro Jahr. Köln gibt vielen von ihnen schon vor dem Abschluss ein Jobangebot.
Als Thiel beim Kölner Stadtarchiv begann, arbeitete sie eher mit Pinzette als mit dem Bagger und hatte regelmäßige Arbeitszeiten in trockenen und gut beheizten Räumen. Nun steht sie an der Unglücksstelle in einem kalten, feuchten Zelt und arbeitet im 24 Stunden Schichtbetrieb. "Wir mussten uns alles selbst erarbeiten", sagt Thiel über die vergangenen zwei Jahre. So etwas hatte es einfach noch nicht gegeben, dass ein Archiv einstürzt. Thiel und ihre Kollegen mussten einen Weg finden, zu retten, was noch zu retten ist. Neben dem Unglücksort haben sie ein großes Zelt hingestellt und auf Stahlboxen eine Waschanlage gebaut, mit Gartenschläuchen spülen etwa 40 Leute im Schichtbetrieb den Schlamm von den Akten - die kommen dann in Cellophan und werden gefriergetrocknet. Die Akten sind bisher auf 19 Asylarchive in ganz Deutschland verteilt. Im Frühjahr soll ein neues Restaurationszentrum in Köln in Betrieb gehen. Mit Gefriertrocknungsanlage, Unterdrucktischen, Schneidemaschinen und Befeuchtungskammern.
Ob sich der ganze Aufwand lohne, für ein paar Schnipsel Papier, im digitalen Zeitalter? Man kann Bettina Schmidt-Czaia ärgern mit solchen Fragen. Schmidt-Czaia ist Leiterin des Stadtarchivs und sagt, es wäre anmaßend, wenn diese Generation entscheiden würde, dass die nächste nichts mehr sehen dürfe. "Jede Zeit bildet sich ihr eigenes Urteil darüber, was sie der Nachwelt hinterlässt." Sie ist eigentlich nach Köln gekommen, weil es hier mit die größten Altbestände gab, weil das Archiv eines der wichtigsten war für Wissenschaftler. Durch den Einsturz, sagt Schmidt-Czaia, sei aber auch den normalen Kölnern klar geworden, was da verloren gegangen ist, auch wenn die Akten davor nicht unbedingt ein Publikumsmagnet waren. "Die Leute merken, es ist ein Teil der Geschichte Kölns, also auch ihrer Geschichte." Es ist eine Art Phantomschmerz in einer Stadt, die nicht als die schönste gilt, die aber stolz ist auf ihre lange Geschichte.
Bisher ist es politischer Konsens, dass Geld da sein muss für die Restaurierung der Akten, trotz hoher Schulden. Eine Garantie ist es aber nicht, dass das auf ewig auch so bleibt. "Ich muss die Akten lebendig machen, das Bewusstsein dafür erhalten, wir brauchen noch Jahrzehnte Geld", sagt Schmidt-Czaia. Eine Stiftung "Stadtgedächtnis" wurde gegründet, um den Geldfluss unabhängig von der Tagespolitik zu machen, mit einem Kapital von 7,4 Millionen Euro. Eine Milliarde Euro wird Köln für die Folgen des Einsturzes zahlen müssen, 100 Millionen Euro für den Neubau des Archivs, es wird fernab jeglicher U-Bahntunnel errichtet und auch ohne Keller.
Wenn an der Unglücksstelle der letzte Klumpen Schlamm aus dem Wasser geholt und nach Akten durchsucht wurde, soll ein Besichtigungsschacht nach unten gelegt werden, dorthin wo der U-Bahntunnel einstürzte. Sachverständige hoffen so klären zu können, warum der Tunnel einstürzte, ob ein Loch in der Außenwand die Ursache war, die dann dem Druck von Grundwasser und Erdreich nicht mehr standhielt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch zwei Jahre nach dem Unglück weiter, ohne dass eine Anklage absehbar ist. Die Angehörigen der Opfer haben die Befürchtung, dass man in Köln am Ende so tun wird, als sei der Einsturz eine Art unabwendbare Naturkatastrophe gewesen.