Katastrophen und Justiz:Machtlos vor der Fehlerkette

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Fünf Jahre nach dem Loveparade-Unglück erinnern Kerzen an die Opfer. Die juristische Aufarbeitung ist nicht zufriedenstellend. (Foto: dpa)

Die Panik bei der Loveparade, die ICE-Katastrophe von Eschede oder der Gletscherbahn-Brand von Kaprun: Wenn keine Einzelperson Schuld hat, scheitert die Justiz regelmäßig an der Aufarbeitung von Großunglücken. Woran liegt das?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Fünf Jahre liegt die Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg nun zurück, und wenn man sehr vorsichtig formuliert, muss man sagen: Die juristische Aufarbeitung läuft eher unbefriedigend.

Seit bald anderthalb Jahren prüft das Landgericht Duisburg, ob es die Anklage zulassen will, doch selbst wenn: Angeklagt sind nur subalterne Mitarbeiter, sechs von der Stadt, vier vom Veranstalter. Aber keiner, der eine verantwortliche Position für die Organisation der Veranstaltung innehatte, bei der 21 Menschen ums Leben kamen. Und es wächst die Sorge, dass am Ende niemand verantwortlich gewesen sein soll.

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In der Reihe der Großunglücke, lautet die bittere Wahrheit, wäre Duisburg damit kein Einzelfall:

  • Eschede: Wegen eines gebrochenen Radreifens entgleist 1998 ein ICE, 101 Menschen sterben - der Prozess gegen drei Ingenieure wird 2003 gegen Geldbußen von je 10 000 Euro eingestellt.
  • Wuppertal: Wegen einer Stahlkralle, die nach Bauarbeiten nicht entfernt worden war, stürzt die Schwebebahn ab und reißt fünf Menschen in den Tod. 2003 folgt eine Bewährungsstrafe für einen Monteur, das Verfahren gegen drei weitere Monteure wird eingestellt.
  • Bad Reichenhall: Fünfzehn Tote beim Einsturz der Eishalle im Januar 2006. Bewährungsstrafe für einen Statiker wegen Berechnungsfehlern beim Bau, Freispruch für einen Gutachter, der die Halle drei Jahre zuvor geprüft hatte.
  • Kaprun: 155 Menschen fallen im November 2000 einem Brand im Tunnel der Gletscherbahn zum Opfer. 16 Angeklagte werden vier Jahre später freigesprochen.

Schuld gegen Schmerz

Eine beklemmende Bilanz, zumal aus der Sicht der Angehörigen der Toten und der mit viel Glück Davongekommenen. Sie suchen nach Schuld und Verantwortung für ihren Schmerz, denn keine dieser Katastrophen war unvermeidbar. In Wuppertal war es ein kleiner Fehler mit fatalen Folgen, die Arbeiter hatten vor der Freigabe der Strecke schlicht die Kralle vergessen.

In Eschede war das Versäumnis aus Sicht der Staatsanwaltschaft größer: Der neue Radreifen sei zu wenig getestet und unzureichend gewartet worden. In Bad Reichenhall fasste der Richter die Rolle der Stadt so zusammen: "Gravierende Fehler, Ignoranz, Verantwortungslosigkeit, Schlamperei, Skrupellosigkeit." Das Hallendach war bereits beim Bau falsch konstruiert, spätere Hinweise auf Baumängel ignorierte die Stadt - von deren Verantwortlichen aber niemand verurteilt wurde. Und das Feuer von Kaprun wurde durch einen Heizlüfter entzündet, der falsch eingebaut war.

Wie kann es sein, dass Fehler passieren, für die niemand geradestehen muss? Die Anklage lautete in all diesen Fällen auf fahrlässige Tötung. Fahrlässigkeit setzt erstens voraus, dass der Fehler die entscheidende Ursache für das Unglück war; zweitens, dass der Täter die fatalen Konsequenzen seines Tuns vorhersehen konnte.

Das ist vergleichsweise einfach, wenn die Verantwortung ersichtlich bei einer einzigen Person liegt. Francesco Schettino hatte als Kapitän der Costa Concordia das Schiff zu nahe ans Ufer gesteuert und so eine Havarie verursacht, der 32 Menschen zum Opfer fielen. Ein Gericht verurteilte ihn im Februar zu 16 Jahren Haft.

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Kompliziert wird die Zuordnung der Verantwortung, wenn sich Fehler an Fehler reiht. Die Eishalle von Bad Reichenhall war schon beim Bau in den 70er-Jahren mangelhaft: Die Dachträgerbalken waren in einer bis dahin kaum erprobten Weise konstruiert, die Güteklasse des Holzes war unzureichend, der Leim nicht geeignet. Der damals maßgebliche Bauleiter war denn auch der Einzige, der verurteilt wurde.

Später gab es immer wieder Hinweise auf den maroden Zustand der Halle - hätte da nicht längst jemand handeln müssen? Wie sich in einer solchen Fehlerkette jeder hinter dem anderen versteckt, wird an jenem Gutachten deutlich, das der am Ende freigesprochene Bauingenieur 2003 erstellte, drei Jahre vor dem Einsturz. Die Halle sei in einem allgemein als gut zu bezeichnenden Zustand, sagte er.

Durften sich die Stadtverantwortlichen darauf verlassen, obwohl der Mann auf die gebotene "handnahe" Untersuchung der Balken verzichtet hatte, bei der die Mängel aufgefallen wären? Durften sie darauf vertrauen, obwohl sie nur eine grobe Kosten-schätzung in Auftrag gegeben hatten und keine eingehende Prüfung der Standsicherheit? Irgendjemand war schuld an der Schlamperei - aber die Justiz konnte ihn im Dickicht der Verantwortungslosigkeiten offenkundig nicht finden.

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Versagen der Justiz

Eine weitere Komplikation liegt in der Technik. In Eschede ging es um die Frage, ob der gebrochene Radreifen nach dem damaligen Stand der Technik überhaupt hätte eingesetzt werden dürfen. Der Prozess wurde zu einer Schlacht der Gutachter. Nach acht Monaten, nach Anhörung von 93 Zeugen und 16 Sachverständigen, kapitulierte das Landgericht Lüneburg. Auch, weil den Angeklagten wohl nur eine "minderschwere Schuld" nachzuweisen sei, die in keinem Verhältnis zu dem Mammutprozess stehe.

Darin liegt ein weiteres Hemmnis: Bei fahrlässiger Tötung sind es mitunter nur kleine Nachlässigkeiten, die gravierende Konsequenzen haben - die Schuld ist klein, das Unglück unermesslich. Wobei die Lüneburger Richter seinerzeit ein fragwürdiges Argument ins Feld führten: Das öffentliche Interesse an der Fortführung des Prozesses sei nicht mehr gegeben. Eines Prozesses wohlgemerkt, der wegen des großen Zuschauerandrangs eigens nach Hannover verlegt worden war.

Fehler im System

Ein Grundproblem solcher Prozesse liegt in der Struktur des Strafrechts. Bestraft werden Menschen wegen ihrer individuellen Schuld. Das Versagen von Organisationen - Behörden oder Unternehmen - ist schwerer greifbar. Die Veranstaltung einer Loveparade, der Bau einer Halle, der Betrieb eines Schnellzugs - alles hochgradig arbeitsteilige Angelegenheiten. Der Fehler liegt irgendwo im System und bleibt dort gut verborgen.

Auf bedrückende Weise haben die Betroffenen das nach dem Unglück von Kaprun erfahren. Das Gericht war zu dem Ergebnis gekommen, Ursache sei ein für niemanden erkennbarer Produktionsfehler am Heizlüfter gewesen. Also Schicksal, schloss Richter Manfred Zeiss beim Freispruch im Jahr 2004: "Da hat Gott für einige Minuten im Tunnel das Licht ausgemacht." Doch als später wegen einer Anzeige der Gletscherbahn gegen den deutschen Hersteller des Lüfters der Fall noch einmal vom Stuttgarter Landeskriminalamt geprüft wurde, mehrten sich die Hinweise, dass die österreichische Justiz versagt habe.

Der Lüfter war offenkundig falsch eingebaut, man hätte ihn nicht unter die Hydraulikleitungen platzieren dürfen. Doch die Aufklärung vor Gericht war gescheitert. Vielleicht auch, wie spekuliert wurde, am Unwillen, die Schuldigen in Österreich zu suchen - in der Tourismusnation, für die der Brand ein Debakel war.

Und die Loveparade von Duisburg? Komplexe Lage, Streit um Gutachten und der Verdacht, man lasse die Großen laufen. Keine guten Vorzeichen für einen Prozess.

© SZ vom 10.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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