Justiz:Mordprozess 42 Jahre nach der Tat - Wie starb der kleine Mario?

Mordprozess - 42 Jahre danach

Eine Mörderin? Oder eine zu Unrecht beschuldigte Mutter? Erna F. und ihr Anwalt im Gerichtssaal in Neuruppin.

(Foto: Bernd Settnik/dpa)

Ein achtjähriger Junge stirbt in der damaligen DDR an einer Gasvergiftung. Bis heute sind die Umstände rätselhaft. Seine Mutter steht vor Gericht.

Von Verena Mayer, Neuruppin

Ein Junge ist tot, er wurde acht Jahre alt. Mario F. starb zu Hause, die Familie fand ihn eines Morgens leblos in seinem Bett. Der Junge wäre inzwischen ein Mann, sein Tod liegt mehr als vier Jahrzehnte zurück. Doch bis heute weiß man nicht, warum Mario F. sterben musste. Ob er womöglich ermordet wurde, als er schlief. Von der eigenen Mutter.

Landgericht Neuruppin. Auf der Anklagebank sitzt Erna F., 74. Gut angezogen und geschminkt, das Haar ist dunkel gefärbt und hochgesteckt. Man merkt, dass es dieser Frau wichtig ist, gepflegt zu wirken. Sonst gibt Erna F. nichts von sich preis. Dass sie vor Gericht sitzt, ist Zufall. 2009 landete bei der Staatsanwaltschaft Hannover ein anonymer Brief, darin schrieb jemand, Erna F. habe einst in ihrer Wohnung im brandenburgischen Schwedt so lange Gas ausströmen lassen, bis ihr Sohn tot war. Und: "Warum wurde die Frau für die grausame Tat nie zur Verantwortung gezogen?"

Den gesamten Prozess durchzieht eine seltsame Gleichgültigkeit

Diese Frage beschäftigt das Gericht nun seit drei Monaten, Mord verjährt nicht. Laut Anklage soll Erna F. Mario getötet haben, weil er ihr im Weg stand. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Frauen ihre Kinder töten, das kann man in den Büchern der forensischen Psychiaterin Sigrun Roßmanith nachlesen, die sich seit Langem mit weiblichen Täterinnen beschäftigt. Der Fall Erna F. sticht dennoch hervor. Wenn Mütter töten, dann meistens kurz nach der Geburt. Um sich des Kindes zu entledigen, das sie nicht wollten oder von dessen Geburt sie überrascht wurden, weil sie schon die Schwangerschaft verdrängt hatten. Oft sind die Täterinnen psychisch krank und töten erst die Kinder und dann sich selbst. Erna F. aber war Mutter von drei Kindern, und alle waren in jener Nacht bei ihr. Warum soll sie Mario herausgesucht haben, und die anderen überlebten?

Ob Mario ein besonders schwieriges Kind gewesen sei, will der Richter als Erstes von Marios Vater wissen. Adolf F. kann es nicht sagen, er ist 75, hört und sieht kaum mehr. Erna F. hat er beim Tanzen kennengelernt. Er war Schlosser, sie Chefsekretärin in einem DDR-Kombinat in Schwedt. Die beiden heirateten, Erna F. brachte eine Tochter in die Ehe. Mario und ein zweites Mädchen wurden geboren, dann ließ sich das Paar scheiden. Adolf F. zog aus, seine Ex-Frau blieb allein mit drei Kindern. Adolf F. kann sich noch gut an die Wohnung in Schwedt erinnern. Plattenbau, drei Zimmer. In einem schliefen die Kinder, immer alle zusammen.

Nur nicht in dieser einen Nacht im November 1974, als Mario starb. Da ließ die Mutter, wie die ältere Tochter später bei der Polizei aussagte, die Mädchen bei sich übernachten und öffnete die Fenster, was sie sonst nie tat. Als die Töchter am nächsten Morgen aufwachten, lag Mario tot im Kinderzimmer. Der Notarzt stellte eine Kohlenmonoxidvergiftung fest, die Polizei untersuchte die Gasleitungen und den Gasherd. Kein Defekt, es roch nicht nach Gas. Jemand musste in der Nacht den Gasherd an- und wieder abgedreht haben.

Hat Mario am Herd gespielt? Er sei verrückt nach Feuer gewesen, hat Erna F. bei der Polizei gesagt. In seinem Magen fand man Rosinen, der Junge muss kurz vor seinem Tod in der Küche gewesen sein. Oder hat die Mutter einen lange gehegten Mordplan umgesetzt, wie die Staatsanwältin glaubt? Die Wahrheit ans Licht zu bringen, ist in diesem Prozess so mühselig, als wolle man in einem stillgelegten Bergwerk nach Gold schürfen.

Viele Zeugen sind tot, den Staat, in dem das mutmaßliche Verbrechen geschah, gibt es nicht mehr. Eine Frau, die wissen könnte, warum nie gegen Erna F. ermittelt worden war, liegt im Krankenhaus. Angeblich soll 1974 ein DDR-Staatsanwalt gesagt haben: Erna F. ist eine werktätige Frau, man dürfe sie nicht hart befragen. Entging Marios Mutter der DDR-Justiz? Eine von vielen Fragen, die offen bleiben werden. 10 000 alte Akten habe man in den vergangenen Wochen durchwühlt, erzählt ein Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft am Dienstag, vergeblich. Die Unterlagen von damals wurden wohl vernichtet.

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