Prozess in Neuruppin:Frau steht 41 Jahre nach der Tat vor Gericht

Erna F.

Sie zieht es vor, zu schweigen: Erna F., 74, am Mittwoch im Gerichtssaal in Neuruppin.

(Foto: Bernd Settnik/dpa)

Eine heute 74-Jährige soll in einer Novembernacht 1974 ihren achtjährigen Sohn vergast haben. Damals konnte ihr nichts nachgewiesen werden.

Von Thorsten Schmitz, Neuruppin

Erna F. wirkt verschreckt, als sie den Flur des Landgerichts Neuruppin betritt. Sie weicht keinen Millimeter von der Seite ihres Rechtsanwaltes. Die vielen Fotografen irritieren sie sichtlich. Als sie Platz nimmt, beginnt sie zu husten. Der vorsitzende Richter Udo Lechtermann legt eine erstaunliche Empathie an den Tag: "Wie geht es Ihnen denn heute? Sie sind sicher aufgeregt, kann ich verstehen." Ja, wie geht es der 74 Jahre alten Erna F., die laut Staatsanwaltschaft ein ungeheuerliches Verbrechen begangen haben soll?

Mit versteinertem Gesicht verlas am Mittwoch die Staatsanwältin die Anklage: F., die heute als geschiedene Rentnerin in Göttingen lebt und aus der ehemaligen DDR stammt, soll vor fast 41 Jahren ihren damals achtjährigen Sohn Mario vergast haben. In der Nacht vom 4. zum 5. November 1974 soll sie den Jungen mit Schlaftabletten in einen Tiefschlaf versetzt und vor Mitternacht in die Küche getragen haben. Dort habe sie den Gasherd aufgedreht und den Sohn das Gas inhalieren lassen, sie habe den bewusstlosen Sohn in sein Kinderzimmer zurückgetragen und gegen fünf Uhr den Notarzt verständigt. Der Notarzt, dessen Aussage für diesen Donnerstag erwartet wird, habe nur noch Marios Tod attestieren können. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Erna F. mit der Erziehung des Kindes überfordert war.

Nach DDR-Recht wäre die Tat verjährt. Nach Bundesrecht ist sie das nicht.

War das alles tatsächlich so? Wird man aus Überforderung heraus von der Mutter zur Mörderin? Viele Fragen wirft die Anklage auf, doch schon nach wenigen Minuten unterbricht der Richter die Verhandlung. Erna F. zieht es vor zu schweigen.

In der ehemaligen DDR verjährte Mord nach 25 Jahren, doch mit der Wiedervereinigung wurde das DDR-Strafrecht für ungültig erklärt. Nach bundesdeutschem Recht verjähren Straftaten nicht, die, wie von der Staatsanwaltschaft angeführt, den Tatbestand der Heimtücke erfüllen, und deshalb sitzt Erna F. nun in Neuruppin als Angeklagte.

Sie trägt eine rosafarbene Bluse, eine helle Sommerjeans, Ballerinas, das Haar hochgesteckt, zu ihren Füßen steht eine knallrote Tasche aus künstlichem Krokoleder. Immer wieder wandern die Blicke von Richtern und Schöffen zu der Frau, die ihren Sohn getötet haben soll. Hat sie?

Tatsache ist, dass Mario an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben ist, das besagen die Obduktionsprotokolle, aus denen im Prozess zitiert wird. Ermittlungen damals hatten allerdings keine stichhaltigen Beweise ergeben, dass der Junge von seiner Mutter vergast worden sein könnte. Im August 2009 dann erhielt die Staatsanwaltschaft Hannover einen Brief von einem anonymen Schreiber: Warum die Polizei den "grausamen Mord" an Mario F. nicht verfolge und Erna F. frei herumlaufen dürfe? Bis heute ist unklar, wer der Verfasser dieses Briefes war. Ein Beamter des Landeskriminalamtes Eberswalde jedenfalls nahm danach die Ermittlungen auf.

Nach dem Tod ihres Sohnes soll sie "seltsam emotionslos" gewesen sein

Am Mittwoch im Gerichtssaal in Neuruppin tritt er als erster Zeuge auf. Stundenlang ist der Mann im Zeugenstand, er rekonstruiert geduldig und ausführlich seine Ermittlungen und berichtet von den Gesprächen, die er unter anderem mit den wechselnden Ehemännern der Angeklagten geführt hat. Es ging dabei auch um Details im Privatleben von Erna F., mitunter verstörende Details.

In allen Vernehmungen sei ausgesagt worden, dass F. häufig Männerbesuche empfangen habe, sagt der Beamte. Ein Nachbarpaar - das bis heute in dem Plattenbau lebt, in dem Mario vergast worden sein soll - habe berichtet, dass alle drei Kinder von Erna F. nachmittags öfter aus der Wohnung geschickt worden seien, gelegentlich hätten sie bei den Nachbarn geklingelt und um Getränke und Essen gebeten. F.s früherer Abteilungsleiter, der eine Affäre mit ihr zugab, habe in der Vernehmung erzählt, er habe sich gewundert, wie "seltsam emotionslos" sie sich gezeigt habe in den Tagen nach Marios Tod.

Auch der Arzt, der bis vor Kurzem noch im Krankenhaus in Schwedt gearbeitet und Mario damals als Notarzt als Erster in Augenschein genommen hat, habe sich verwundert ausgedrückt angesichts der Erklärung der Mutter, wie Mario zu Tode gekommen sei. Damals hatte Erna F. erklärt, Mario habe nachts am Gasherd herumgespielt, nachdem er mitten in der Nacht Kuchen genascht habe. Er sei dann an Erbrochenem erstickt.

Warum sollte der Sohn durch das Gas sterben, die Mutter aber nicht?

Schon damals war F.s Aussage allerdings rätselhaft, denn: Warum wäre Mario durch das Gas vergiftet worden, Erna F. dagegen und ihre beiden Töchter, die zur Tatzeit in der Schwedter Plattenbauwohnung waren, dagegen nicht? Warum soll Mario in der Todesnacht überhaupt im Wohnzimmer geschlafen haben, die beiden Schwestern aber im Schlafzimmer der Mutter, wie F. angab?

In ihrer Vernehmung hatte Erna F., eine gelernte Fleischerin, auch über ihre Auffassung zu Erziehung allgemein gesprochen: Schläge als Strafe seien notwendiger Teil davon, "so muss das sein", habe sie gesagt. Mario sei ein wildes Kind gewesen, er habe zu Hause mit Streichhölzern eine Matratze angekokelt und sei öfter von der Schule abgehauen.

Kurz nach Marios Tod zog die Angeklagte mit ihrem Abteilungsleiter in eine neue Wohnung in Schwedt, die jüngere Tochter nahm sie mit, die ältere setzte sie in einen Zug zum Vater, der darüber ziemlich baff gewesen sein soll. Vor Gericht spricht der Vater vorerst nicht, dafür aber in der lokalen Ausgabe der Bild-Zeitung. Der Mann, der heute in Angermünde lebt, sagt da über seine geschiedene Frau: "Erna war ein Teufel in Menschengestalt." Erna F. selbst zitiert das Blatt, die es vor ihrem Wohnhaus in Göttingen zur Rede gestellt haben will, dass Marios Tod ein "Unfall" gewesen sei.

Diesen Donnerstag wird außer dem Notarzt auch ein Mitarbeiter der DDR-Stadtgaswerke aussagen. Später in diesem Prozess, der zunächst für vier Verhandlungstage angesetzt ist und Mitte Mai fortgesetzt wird, werden auch die beiden Töchter der Angeklagten erscheinen; eine der beiden hat den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Ob Erna F. dann ihr Schweigen brechen wird, ist ungewiss.

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