Indien:Klinik ohne Sauerstoff

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Rinkhi Sing, 31, zeigt das Foto ihrer Tochter, die in der Klinik starb. (Foto: Cathal McNaughton/Reuters)

Mehr als 70 Kinder sterben in einem Krankenhaus im Norden des Landes. Der schockierende Verdacht: Lag es daran, dass das Krankenhaus seine Rechnungen nicht bezahlte?

Von Arne Perras, Singapur

Die Zahl der Opfer ist sehr rasch gestiegen. Nun sind es schon mehr als 70 Kinder, die innerhalb weniger Tage in einer staatlichen Klinik im nordindischen Gorakhpur ums Leben kamen. Und die Erzählungen der verzweifelten Eltern nähren einen schrecklichen Verdacht: Kann es sein, dass sie alle sterben mussten, weil die Klinik es versäumte, Rechnungen für den zur Beatmung lebenswichtigen Sauerstoff zu bezahlen? Um diesen Vorwurf wird nun heftig gestritten, der Skandal um das BRD Medical College im Bundesstaat Uttar Pradesh rüttelt ganz Indien auf.

Premierminister Narendra Modi hat die Todesfälle in seiner Ansprache zum 70. Unabhängigkeitstag aufgegriffen und versicherte den trauernden Eltern, die ganze Nation mit mehr als einer Milliarde Menschen fühle jetzt mit ihnen. Wie es zu dem grausamen Massensterben auf den Stationen kam, ist jedoch noch immer nicht aufgeklärt. Tag für Tag kommen weitere Details ans Licht, aber ein schlüssiges Bild ergeben sie nicht. Sicher ist nur, dass der Skandal das Vertrauen der Bürger in den Staat weiter untergräbt. Zwar brilliert Indien in vielen Hightech-Bereichen, von der IT-Branche über die Biotechnologie bis hin zur Raumfahrt. Gleichzeitig aber weist gerade das Gesundheitssystem immer noch erhebliche Defizite auf. Und die Todesfälle von Gorakhpur werfen ein grausiges Schlaglicht auf diese Zustände, unter denen vor allem untere Schichten leiden.

Der Staat Uttar Pradesh lässt die Fälle nun untersuchen. Bislang haben die Behörden allerdings Darstellungen mehrerer Eltern bestritten, wonach mangelnde Sauerstoffzufuhr in der Intensivstation für den Tod der Kinder verantwortlich gewesen sei. Die Klinikleitung räumte ein, dass es kurzzeitig zu Engpässen gekommen sei, beharrt aber darauf, dass man schnell Ersatz gefunden habe. Die hohe Zahl der Todesfälle ließe sich nicht auf diese Ursache zurückführen. Der Gesundheitsminister des Bundesstaates führt die vielen Todesfälle auf Hirnhautentzündung zurück. Doch ist unklar, wie viele der gestorbenen Kinder tatsächlich mit diesem Krankheitsbild eingeliefert worden waren. Die indische Onlinezeitung livemint jedenfalls berief sich auf eingesehene Krankenhausakten, die nicht zu der Erklärung des Ministers passten. Demnach sei nur ein kleiner Teil der Kinder an Enzephalitis erkrankt gewesen.

Ein fünfköpfiges Untersuchungsteam erhob schwere Vorwürfe gegen die Firma, die den Sauerstoff an die Klinik verkauft, sie hätte die Lieferung nicht unterbrechen dürfen, weil ihr Job eine "lebensrettende Aufgabe" sei. Zur Todesursache machten die Experten keine Angaben, doch sie stießen auf Unregelmäßigkeiten in den Listen der Sauerstoffzylinder, die von der Klinik geführt werden. Schließlich habe auch noch ein leitender Arzt unentschuldigt gefehlt, und der Klinikchef sei am schlimmsten Tag der Krise auf Reisen gewesen.

Krankenhausleiter Rajiv Mishra ist nun suspendiert, doch erhob er seinerseits schwere Vorwürfe gegen die Verwaltung. Er habe mehrere Briefe an sie geschrieben, sie sollten endlich die Mittel zur überfälligen Bezahlung des Sauerstoffs bereitstellen - angeblich ohne Erfolg. Einige Eltern erzählten, wie sie ihre Kinder in den letzten Minuten noch in ihren Händen hielten. Doch sie konnten nichts anderes tun, als ihnen beim Sterben zuzusehen. Brahmadev Yadav hatte seine vier Tage alten Zwillinge in die Intensivstation gebracht. Immerzu sah er das rote Licht blinken, das die mangelnde Sauerstoffzufuhr anzeigte.

"Dann stoppte die Maschine," sagte der Vater. Und kurze Zeit später waren seine Zwillinge tot.

© SZ vom 21.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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