Indien:Freier Eintritt zur Hölle

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25 Jahre nach der furchtbaren Industriekatastrophe soll die Unglücksfabrik im indischen Bhopal zur Touristenattraktion werden - die Regierung will so ihre Versäumnisse vertuschen.

Tobias Matern

Es war eine Nacht des Grauens: Am 3. Dezember 1984 kam es in der Pestizidfabrik im zentralindischen Bhopal zu einer Explosion. Mehrere Tonnen gasförmigen Methylisocyanats breiteten sich über der Stadt aus. Die Menschen flüchteten aus den Slums, die direkt neben der Anlage der US-Firma Union Carbide lagen. Doch viele konnten sich nicht retten.

Eine Aufnahme vom 4. Dezember 1984, dem Tag nach der Explosion der Pestizidfabrik in Bhopal. Helfer spritzen Wasser auf das Katastrophengelände. (Foto: Foto: AFP)

Bis zu 30.000 Menschen starben nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen bei dem Unfall oder an den Folgen - die indische Regierung geht von der Hälfte aus. Seit jener Nacht steht Bhopal für eine der größten Industriekatastrophen aller Zeiten; die US-Firma hatte die Produktion nach Bhopal verlegt, um Geld zu sparen. Heute liegt das Werk brach, die Ruine verkommt. Und etliche Opfer fühlen sich noch immer nicht ausreichend entschädigt.

Die Bewohner leiden immer noch

Auch ein Vierteljahrhundert später leiden Bewohner der Region an Lungenerkrankungen, Krebs und Unfruchtbarkeit. Die Wahrscheinlichkeit, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen, sei hier für Frauen zehn Mal höher als im Rest Indiens, sagt Rachna Dhingra von der "Internationalen Kampagne für Gerechtigkeit in Bhopal". Das Trinkwasser sei noch immer verseucht.

Babulal Gaur hält diese Angaben für übertrieben und will den Gegenbeweis antreten. Der für die Opfer des Unglücks zuständige Minister im Bundesstaat Madhya Pradesh macht die Anlage jetzt zum ersten Mal für eine Woche der Öffentlichkeit zugänglich. 25 Jahre nach dem Unfall herrsche noch immer der Irrglaube, auf dem Gelände lagerten gefährliche Abfälle, meint er. Es bestehe aber keine Gefahr für die Gesundheit, auch das Grundwasser werde nicht mehr belastet.

"Ich habe das Gelände selbst schon häufig besucht und war in der Nähe der Abfälle. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung", sagte Gaur der Zeitung The Sunday Express. Er wirbt mit freiem Eintritt für die Touristen, die den Unglücksort besichtigen wollen. Die Regierung wird zudem in einer Ausstellung dokumentieren, wie sie den Opfern geholfen hat.

"Kompletter Unsinn"

Bislang begutachteten nur Ermittler und Vertreter von Umweltorganisationen das Gelände - und sie kommen alle zu anderen Ergebnissen als der Minister. Das Oberste Gericht von Madhya Pradesh etwa hatte noch vor wenigen Jahren geurteilt, das Gelände solle bewacht werden, weil dort gesundheitsgefährdende Stoffe lagerten. Das Gebiet sei weder "Garten oder Park, noch Versuchslabor". Kinder müssten unbedingt davon abgehalten werden, dort zu spielen. Menschenrechtler werfen dem Minister denn auch vor, unter Realitätsverlust zu leiden.

Die Schriftstellerin Indra Sinha nennt die Pläne "kompletten Unsinn". Die Fabrik in Bhopal sei ein Symbol des Todes. "Nur geistig Behinderte kämen auf den Gedanken, so eine Show auf die Beine zu stellen", schimpft sie. Auch andere Aktivisten üben scharfen Protest. "Noch immer sind Menschen dort krank, noch immer sterben sie, noch immer müssen sie verseuchtes Wasser trinken", sagt Rachna Dhingra. Die Politik versuche, die Öffentlichkeit einer "Gehirnwäsche" zu unterziehen.

Eine unbequeme Wahrheit soll Dhingra zufolge nun aus der Welt geschafft werden: In der Fabrik befänden sich bis heute giftige Abfälle. Weder die Behörden, noch die verantwortliche Firma habe das Areal vernünftig gereinigt, die Politik kapituliere vor dem Konzern. Minister Gaur widerspricht: Mit der Öffnung der Industriebrache beweise die Regierung, dass sie in Bhopal nichts zu vertuschen habe.

© SZ vom 16.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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