Indien:Chips & Hymne

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Indische Kinobesucher müssen künftig erst gemeinsam die Nationalhymne singen, bevor der Film startet. Das hat das Oberste Gericht entschieden. Der Anlass ist nicht so lustig.

Von Tobias Matern

Wer einen Inder danach fragt, was sein riesiges Land eigentlich zusammenhält, bekommt manchmal diese Antwort: Bollywood. Tatsächlich sind die Träume, die aus der Filmmaschine in Mumbai im multiethnischen, multireligiösen, multilingualen Indien stammen, so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich das 1,2-Milliarden-Volk irgendwie noch einigen kann. Die Kinos, in denen vor allem diese Filme gezeigt werden, sind hingegen längst nicht mehr Orte der Gleichheit, die "Gold Class"-Paläste in den Einkaufszentren erinnern an die Business Class im Flugzeug, mit verstellbaren Liegesitzen, Bedienung am Platz und Decken. Hier werden Eintrittspreise verlangt, die Millionen Inder nicht in einer Woche verdienen. In die kleinen, unabhängigen Kinos, die nach und nach verschwinden, kommen aber nach wie vor auch die Menschen mit geringem Einkommen.

Das Oberste Gericht in Delhi hat nun für alle Kinogänger auf Liege- und Klappstühlen ein aufsehenerregendes Urteil gefällt: Vor jedem Film müssen sich alle Besucher erheben und die Nationalhymne anhören, im besten Fall mitsingen: "Die Leute wissen heutzutage nicht mehr, wie man die Nationalhymne singt, und es muss ihnen beigebracht werden", befand das Gericht und erklärte, es wolle einen "verfassungsrechtlichen Patriotismus" verbreiten: "Die Leute müssen ein Gefühl dafür bekommen, dass es ihr Land ist." Selbst, wenn sie gerade eine Popcorntüte in der Hand halten.

Die Entscheidung muss vor dem Hintergrund der fortschreitenden Nationalisierung seit dem Wahlsieg der hinduistisch-nationalistischen Regierungspartei BJP um Premierminister Narendra Modi im Jahr 2014 gesehen werden. So kommt es, dass erst einmal das zum Nationallied erhobene Gedicht "Jana Gana Mana" (Herrscher über den Geist des Volkes) angestimmt werden muss, bevor zum Beispiel Luke Skywalker, James Bond oder Shah Rukh Khan auf die Leinwand dürfen.

© SZ vom 01.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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