Frankreich: Geheimnisvolle Insel:Die schaumgeborene Schönheit

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Scheinbar aus dem Nichts ist vor Westfrankreich eine "île mystérieuse" aufgetaucht. Wissenschaftler jubeln und wollen hier die Entstehung des Lebens erforschen. Die Bürger nutzen die Insel bereits - zum Fallschirmspringen und für Rave-Partys.

Stefan Ulrich

Wenn Jean-Marc Thirion auf die "île mystérieuse" zu sprechen kommt, die "geheimnisvolle Insel", dann gerät er ins Schwärmen. Einmalig sei sie - ein "völlig jungfräuliches" Eiland, auf dem die Wissenschaftler nun hervorragend beobachten könnten, wie sich ein Ökosystem entwickele.

Das Neuland vor dem Leuchtturm von Cordouan ist sehr begehrt. (Foto: AFP)

Er und seine Kollegen von der Naturschutzorganisation "Objectifs Biodiversités" fahren immer wieder auf das "extrem interessante" Neuland vor der französischen Atlantikküste nordwestlich von Bordeaux hinüber. Sie vermessen, wie die schaumgeborene Schönheit ihre Formen verändert. Sie prüfen, woher die Sandkörner stammen. Und sie untersuchen all die kleinen Pioniere, die sich auf diesem bei Flut etwa 3,5 Hektar großen Sandhaufen niederlassen wollen: Strandgräser, Winden, Kleinkrebse, Käfer, Spinnen. Manche trägt der Wind herüber, andere kommen auf Baumstämmen als blinde Passagiere. "Wir möchten verstehen, wie eine Insel kolonisiert wird", erklärt Thirion. "Wie Leben entsteht."

So eine Gelegenheit erhalte man sonst nur, wenn in irgendwelchen fernen Meeren eine neue Vulkaninsel auftauche, sagt der Naturwissenschaftler. Nun bekomme man sie vor der Küste Frankreichs geboten. Zwar gebe es Leute, die behaupteten, das Eiland in der Nähe des berühmten Leuchtturms von Cordouan sei nur eine jener flüchtigen Sandbänke, die immer mal wieder entstünden, nur um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Sie hätten aber noch nicht begriffen, dass es sich hier um eine richtige Insel handele, auf der sich das Leben schnell entwickelt habe.

Einen Namen hat das nur wenige Meter hohe Stück Land noch nicht. Dafür ist es einfach zu neu. Deswegen sprechen die Forscher und die Leute im Rathaus der nahe gelegenen Stadt Royan nur von der "île mystérieuse", in Anlehnung an Jules Vernes Roman "Die geheimnisvolle Insel". Wie genau das Eiland entstanden ist, wird noch untersucht.

Eine Ursache sind wohl Kalkfelsen am Grund jener von Wind, Gezeiten und Wellen umtriebene Zone, in der sich die Fluten des Atlantik und der Gironde mischen. Hier lagerte sich in den vergangenen Jahren eine Menge Sand ab, der teils aus dem Ozean und teils von den Dünen der umliegenden Küsten stammte. Schließlich lagerte der Orkan Klaus im Januar 2009 solche Sediment-Mengen ab, dass aus der Sandbank eine Insel wurde.

Die Entdecker: Krebse, Käfer und Möwen

Der Sturm Xynthia, der im vergangenen Februar die französischen Küsten heimsuchte, hat die Insel gezaust, aber nicht zerstört. "Die Besiedlung geht weiter", freut sich Naturschützer Thirion. Bis zu 30 Tierarten hätten die Forscher schon entdeckt. Acht von diesen Spezies sei es gelungen, sich dort richtig festzusetzen.

Allerdings entdecken nicht nur Strandfliegen, Krebse, Käfer und Möwen die Geheimnisvolle, sondern auch immer mehr Menschen. "Für die Bürger von Royan ist das eine Art Promenade geworden", sagt Bernard Giraud, der im Rathaus für den Umweltschutz zuständig ist. Die Leute machen Bootsausflüge auf das Eiland, und auch als Landeplatz für Fallschirmspringer wurde es schon genutzt. Sogar eine Rave-Party wurde darauf abgehalten. Giraud findet, man müsse nun auch an den Schutz der Insel denken. Sie sei ein phantastisches Beispiel dafür, wie sich Leben immer wieder erneuere. Noch nie sei eine Sandinsel so schnell entstanden und von Pflanzen bewachsen worden.

Die Wissenschaftler von "Objectifs Biodiversités" haben bereits Informationsschilder aufgestellt und auch direkt mit den Leuten gesprochen, damit diese sorgfältig mit dem jungen Ökosystem umgehen - bislang ohne viel Erfolg. Womöglich sind die Menschen noch nicht reif für die Insel. Thirion und seine Kollegen hoffen daher, dass die Insel bald Teil eines Marine-Naturparks wird, den Frankreich im Bereich der Gironde einrichten will. Die Gironde ist nicht nur der größte Mündungstrichter Europas, sondern auch der einzige, der noch richtig lebt, das heißt, von Wasser und Wetter ständig umgeformt wird.

Bislang besitzt Frankreich erst einen Marine-Naturpark, in der westlichen Bretagne bei Brest. Es hinke damit anderen Ländern hinterher, findet Thirion. Er fürchtet, dass seine Schaumgeborene zum Opfer wirtschaftlicher Interessen werden könnte. Der Hafen von Bordeaux wolle die befahrbare Route durch den Mündungstrichter so erweitern, dass ihn viel größere Schiffe als bisher passieren können. Womöglich sei da die "île mystérieuse" im Weg, zumal sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den ökologischen Wert der Gironde lenke. Manche Leute bauten wohl darauf, das Eiland werde bald wieder untergehen, sagt Thirion. Er dagegen glaubt, dass die kommenden Stürme noch mehr Material ablagern, und versichert: "Die Insel bleibt."

© SZ vom 14.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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