Frankfurt:Stimmen im Kopf

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Der Angeklagter Habte A. - hier im Gerichtssaal des Frankfurter Landgerichts - soll unter Einfluss einer psychischen Krankheit gehandelt haben. (Foto: Jan Huebner via www.imago-images.de/imago images/Jan Huebner)

Im Juli 2019 stieß Habte A. eine Frau und ihren Sohn vor einen ICE. Der 8-Jährige starb. Nun beginnt der Prozess, bei dem A. angibt, sich nicht an die Tat zu erinnern.

Von Marija Barišić, Frankfurt

Er sagt nichts, sein Anwalt spricht für ihn: "Es tut mir unendlich leid, ganz besonders für die Familie des durch meine Tat zu Tode gekommenen achtjährigen Leo." Habte A. sitzt im Gerichtssaal 1 des Landgerichts Frankfurt. Der 41-jährige Mann trägt Glatze, ein kurzes, weißes Hemd mit buntem Muster und einen Mundschutz, der sein Gesicht bis zu den Augen verdeckt. Er schaut wie jemand, der nicht wirklich weiß, was hier gerade geschieht. Rechts von ihm sitzt ein Dolmetscher, der während des Prozesses für ihn übersetzt.

Vor etwa einem Jahr, am 29. Juli 2019, stößt Habte A. eine 40-jährige Frau und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug. Die Mutter kann sich in letzter Sekunde retten, sie rollt zur Seite und überlebt. Ihr Sohn wird vom Zug überrollt und stirbt vor Ort. Der Vorfall ereignet sich am Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofes - kurz nach der Tat werden Medien darüber berichten, dass die Mutter sich mit ihrem Sohn gerade auf dem Weg in den Urlaub befunden habe. Der Zug hätte nach München fahren sollen. Bevor A. flüchtet, versetzt er am selben Bahngleis einer 87-jährigen Frau einen kräftigen Stoß in den Rücken. Die Frau stürzt nicht auf die Gleise, kommt daher mit einer Verletzung am Ellenbogen davon. Erst dann, unweit des Hauptbahnhofes, kann die Polizei den flüchtigen Täter stellen und festnehmen.

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Die Übergriffe sollen sich 2013 in einem Hotel in Manhattan zugetragen haben. Der Anwalt des Schauspielers bestreitet die Vorwürfe - es sind allerdings nicht die ersten Anschuldigungen gegen seinen Mandanten.

Der Beschuldigte litt offenbar an einer schizophrenen Psychose

In der Untersuchungshaft lässt ihn die Staatsanwaltschaft von einem psychiatrischen Sachverständigen untersuchen. Das Ergebnis: Wegen einer schizophrenen Psychose sei der Beschuldigte bei Begehung der Taten vermutlich nicht steuerungsfähig und demnach auch nicht schuldfähig gewesen. So steht es jetzt in der Antragsschrift, die die Staatsanwaltschaft beim Prozessauftakt verliest.

Der Beschuldigte Habte A. habe aufgrund seiner psychischen Erkrankung unter Verfolgungs- und Fremdsteuerungswahn gelitten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es erneut zu einer Tat kommen könnte, sei laut Staatsanwaltschaft "hoch bis sehr hoch." In ihrer Antragsschrift fordert sie deswegen auch die dauerhafte Unterbringung des Beschuldigten in einer psychiatrischen Anstalt und wirft dem 41-Jährigen Totschlag, versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen vor. Sollte die Beweisaufnahme vor Gericht allerdings ergeben, dass Habte A. "heimtückisch" gehandelt hat, dass er also zum Tatzeitpunkt die Arg- und Wehrlosigkeit seiner Opfer bewusst ausgenutzt hat, spricht das deutsche Gesetz nicht von Totschlag, sondern von Mord.

Das wird nun die 22. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts herausfinden müssen. Für den Prozess hat das Landgericht bisher sechs Tage eingeplant. Zum Prozessauftakt am Mittwoch sagte auch der psychiatrische Sachverständige aus.

Als Teenager soll Habte A. zum Militärdienst gezwungen worden sein

Zum Tatzeitpunkt im Juli 2019 ist Habte A. 40 Jahre alt, hat eine Frau, drei Kinder und lebt mit seiner Familie eigentlich in Zürich in der Schweiz. A. ist in Eritrea aufgewachsen und erzählt dem Sachverständigen von einer "schönen Kindheit", in der er Musik gehört und Fußball gespielt habe. Als Teenager wurde A. nach eigenen Aussagen zum Militärdienst gezwungen, dort habe er zunächst an der Front im eritreisch-äthiopischen Konflikt gedient, dann sei er als Sanitäter eingesetzt worden.

Im Jahr 2006 nutzte der Mann seine vierwöchige Beurlaubung, um zu flüchten, und landete über Umwege in der Schweiz. Dort bekam er ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht. Bis 2019 soll A. unauffällig in Zürich gelebt und gearbeitet haben, mal als Monteur, danach bei den Schweizer Verkehrsbetrieben. Doch 2018 soll er erstmals psychische Probleme entwickelt und einen Hausarzt aufgesucht haben. Er sei "depressiv geworden, habe plötzlich männliche Stimmen gehört, die er nicht kannte und die ihn beschimpften", sagt der Sachverständige vor Gericht. Habte A. habe den Eindruck gehabt, "dass andere ihn kontrollieren und beobachten würden und habe sich von größeren Menschenmengen verfolgt gefühlt". Wegen der Stimmen wollte er schließlich auch die Schweiz verlassen.

Aus Verfolgungswahn die Dokumente weggeworfen

Am 25. Juli 2019 fährt er mit einem PKW zunächst nach Basel, von dort nimmt er den Zug nach Frankfurt. Weil er sich verfolgt fühlt, wirft er seine Dokumente weg und streunt verwirrt durch die Stadt. Dem Sachverständigen habe er mehrere Male gesagt, dass seine Gedanken "außer Kontrolle" geraten seien. An die Tat selbst könne sich der Beschuldigte nicht erinnern. Nur daran, dass er nach der Tat "am ganzen Körper gezittert" habe.

Neben dem Sachverständigen sagt am Mittwoch auch die 87-jährige Frau aus, die der Beschuldigte zu Boden gestoßen hatte. Sie leide heute noch an den körperlichen und psychischen Folgen ihres Sturzes und habe ein mulmiges Gefühl, wenn sie mit der Bahn fahre, sagt sie vor Gericht. Auch die zwei Augenzeugen, ein 27-Jähriger und ein 46-Jähriger, die bei der Tat am 29. Juli 2019 am Frankfurter Bahnhof waren, wirken sichtlich traumatisiert und können nur schwer über das Erlebte sprechen, ohne zu weinen. Sie seien zwar beide psychisch stabil, der 46-Jährige gibt allerdings an, nach dem Vorfall Frankfurt verlassen zu haben.

Die beobachtete Tat sei nicht der Hauptgrund für sein Fortgehen gewesen, aber ein wesentlicher, sagt der Zeuge. Unter Tränen bedankt sich der Vater des verstorbenen Jungen bei dem 46-jährigen Zeugen: "Meine Frau sagt, dass Sie Ihnen danken will. Dass Sie so beherzt waren und sich vor Ort um sie gekümmert haben, wo keiner da war." Am Donnerstag wird der Prozess fortgeführt.

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