Flugzeugentführung in Somalia:Mit dem Leben abgeschlossen

Lesezeit: 5 min

"Und er zieht seine Pistole": Wie der Afrika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung eine Flugzeugentführung in Somalia durchlebte.

Arne Perras, Bosaso

Draußen auf dem Rollfeld steht die Antonov 24. Man sieht, dass sie nicht mehr die jüngste ist. Aber ihr Anblick macht uns an diesem Morgen glücklich. Es ist Montag, hinter uns liegen fünf Tage Recherche in Bosaso, einer Piratenhochburg in Somalia. Wir sind unter dem Schutz der autonomen Regierung von Puntland gereist, der Sicherheitsminister hat Visa erteilt, seine Soldaten haben uns Tag und Nacht mit schwer bewaffneten Bodyguards beschützt. Somalia ist ein äußerst hartes Terrain für Journalisten. Aber das ist der Job. Wer berichten will über das Problem mit den Piraten, muss auch vor Ort recherchieren. Viele Monate lang ist diese Reise minutiös von uns vorbereitet worden. Die Recherchen sind gut gelaufen. Nun, an diesem Montag, wollen wir also wieder raus.

Arne Perras - im Bild mit Leibwächtern, die ihn auf seiner Reise in Puntland begleiteten - schreibt seit neun Jahren für dieSüddeutsche Zeitungüber Afrika. Seit drei Jahren ist Perras, 42, Korrespondent auf dem Kontinent. Der Historiker, der in Oxford über Kolonialgeschichte promovierte, lebt mit seiner Familie in Uganda. (Foto: Foto: privat)

Ich reise mit meinem Kollegen von der Frankfurter Rundschau, Johannes Dieterich. Wir kennen uns, auf ihn ist Verlass. Wir trinken in der Abflughalle noch einen Cappuccino, der Kaffee ist gut, Somalia war eine italienische Kolonie. Wir witzeln noch. Gut, dass die Italiener früher hier waren und nicht die Briten mit ihrem grässlichen Porridge. Dann wird unser Flug aufgerufen, Daallo Airlines, nach Dschibuti. Über die hintere Treppe gehen etwa 30 Passagiere an Bord. Aus der Nähe betrachtet sieht die blau-weiße Antonow reichlich verschlissen aus.

Aber ich weiß, dass alte Flieger ihre Vorteile haben, wenn sie gewartet werden. Sie sind nicht so anfällig wie die Hightech-Maschinen. Die Antonow gilt als unverwüstlich. Später werden wir noch froh sein über die Maschine, in der das Cockpit durch eine Metalltür von der Kabine getrennt wird. Die Crew sitzt schon vorne: Pilot, Kopilot, Navigator, Ingenieur. Zwei Russen, zwei Ukrainer. Der Steward ist ein baumlanger Kerl namens Mohamed. Er fliegt seit sieben Jahren mit den Russen, so hat er ihre Sprache gelernt. Größeres Glück können wir an diesem Tag nicht haben.

Geschafft, denken wir

Kurz vor 14 Uhr wirft der Pilot die Propeller an. Es ist brütend heiß in der Kabine, alle schwitzen. In der ersten Reihe sitzen zwei Männer, die ganz besonders schwitzen. Aber davon wird ein Passagier erst später erzählen. Ich freue mich auf den Flug, es wird den Golf von Aden entlang gehen, wo die ockerfarbene Wüste auf den türkisfarbenen Ozean trifft. Wir denken an ein kühles Bier in Dschibuti, dessen Gassen von kahlgeschorenen französischen Fremdenlegionären bevölkert sind. Die Maschine rollt über die Piste, wir heben ab, ich sitze in der linken Reihe, Johannes in der rechten. Wir atmen durch. Geschafft, denken wir.

Vor mir sitzt eine verschleierte Mutter mit ihren Kindern. Der kleine Junge linst zwischen den Sitzen hindurch. Ich spiele "Guckguck" mit ihm. Er kichert, versteckt sein Gesicht. Es vergehen zwei, vielleicht drei Minuten - dann springt plötzlich ein Mann in der ersten Reihe auf. Er ist groß und hat einen irren Blick. Er brüllt ein paar Worte auf Somali, die ich nicht verstehe, und zieht seine Pistole. Es dauert zwei, drei Sekunden, bis die Botschaft bei mir ankommt. Dieser Mann entführt gerade unsere Maschine.

Sofort hebt ein unglaublicher Lärm in der Kabine an, die Passagiere zetern und schreien, sie brüllen nach vorne, sie weinen in ihren Schoß. Der Entführer kann sie nicht zum Schweigen bringen. Dann geht die Tür des Cockpits auf, der Ingenieur schaut heraus, um zu sehen, was los ist. Er sieht den Entführer, der zur Tür springt, es gibt ein Gerangel, der Ingenieur kann ihn wegschubsen, er zieht die Tür zu und verriegelt. Der Entführer brüllt jetzt noch mehr als vorher, er feuert zwei Schüsse auf die Cockpit-Tür ab. Ich tauche ab hinter meinem Sitz in der Mitte des Flugzeugs. Es gibt noch einen zweiten Komplizen mit Pistole, aber ihn sehe ich erst später. Wenn das die Islamisten sind, denke ich, sieht es schlecht aus. Ich schiebe mich noch weiter hinter den Sitz. Aber was nützt das in der kleinen Kabine? Es ist, als schnürte mir jemand mit Gewalt den Brustkorb zusammen.

Was will der Mann? Und wo will er hin? Antworten darauf bekommen wir erst später, als alles vorbei ist, aus Gesprächen mit den anderen somalischen Passagieren. Der Mann da vorne schreit, dass die Maschine in Las Qoray runtergehen solle. Das ist eine Fischfabrik mit einer Piste, 15 Minuten Flug von Bosaso entfernt. Der Entführer befiehlt dem Steward, den Piloten das Ziel durch den Schlitz in der Cockpit-Tür zuzubrüllen. Mohamed spricht Russisch, er sagt den Piloten, dass der Mann nach Las Qoray will. Die Piloten aber fliegen eine Schleife, sie nehmen Kurs zurück nach Bosaso. Der Stuart sagt dem Entführer, alles werde gut, er solle sich nur beruhigen, sie würden nach Las Qoray fliegen, wie befohlen. Das Flugzeug fliegt jetzt tief, die Fenster sind klein, man sieht kaum, wohin es geht.

Hitzige Debatten

Erst später erfahre ich, dass es im Flugzeug hitzige Debatten zwischen dem Entführer und den Passagieren gibt. Ein Hotelbesitzer aus Bosaso kennt den Kidnapper. Er versucht, mit ihm zu verhandeln. Später wird ein anderer Passagier erzählen, was der Entführer den Leuten im Flugzeug sagte: Sie sollten sich beruhigen, er wolle nur die beiden Ausländer. Das ist eine neue Dimension, so etwas hat es selbst in Puntland noch nicht gegeben. Die Maschine fliegt jetzt wieder zur Landung an, der Entführer schaut zum Fenster hinaus und schreit: "Das ist Bosaso." Da will er nicht hin, er schießt wütend auf die Tür des Cockpits, die Maschine startet durch. Der Entführer ist jetzt rasend, das Flugzeug steuert Richtung Meer, die Maschine neigt sich zur Seite, sie verliert rasch an Höhe. Es ist der Augenblick, in dem ich denke: Er hat die Piloten erschossen, wir stürzen ab.

Im Kopf wechseln jetzt die Bilder in rasendem Tempo, sie laufen wie ein Film des Lebens vor mir ab. Ich sehe alte Kinderfotos, wie ich als Zweijähriger durchs Laub im Spessart stiefele. Ich sehe meinen Vater, der unseren Hund krault. Meine Mutter an der Staffelei. Meine Frau auf einem Foto in Buenos Aires. Mein Sohn spielt Fußball, meine Tochter kuschelt mit ihren Hasen. Bei den Kindern hängt der Film. Ich sehe meine achtjährige Tochter plötzlich als älteres Mädchen, sie ist jetzt vielleicht 16. Ohne Vater. Sie fragt: Warum? Ich starre aufs Meer, ich höre das Geschrei nicht mehr.

Zwei, drei Minuten geht das so, dann steuert die Maschine wieder über Land. Sie neigt sich nicht mehr, sie fliegt geradeaus, der Pilot muss also leben. Erst hinterher kann ich sehen, dass keiner der Schüsse die Tür zum Cockpit durchdrungen hat. Wieder fliegt die Maschine an, die Passagiere rufen dem Mann zu, dass sie gleich in Las Qoray seien, wie er es wolle. Der Luftpirat ist verunsichert, er blickt durchs Fenster, kann aber nicht viel erkennen. Er ist blöde, denke ich. Aber das macht ihn unberechenbar.

Im Flugzeug sitzt auch ein Mullah, mit dem Koran auf dem Schoß. All die Zeit hat er gebetet. Nun erhebt er das Wort: "Ich schwöre beim heiligen Koran, dies hier ist Las Qoray, wo du hin wolltest." Die Maschine setzt auf, der Steward hastet nach hinten, der Entführer hängt am Handy. "Wir sind da, seht ihr mich?", brüllt er. Aber niemand seiner Komplizen scheint ihn zu sehen. "Lasst die Tür zu", schreit er und rennt hinter dem Steward her. Der hat die Tür schon geöffnet, es gibt ein Gerangel, beide fallen aus dem Flugzeug, der zweite Entführer hastet hinterher. Später höre ich, dass der Steward mit dem Entführer gekämpft hat, bis die Spezialpolizei den Mann überwältigen kann. Die Russen hatten Funkkontakt. Die Polizei ist mit einem Jeep neben dem landenden Flugzeug hergefahren. Den Komplizen des Entführers haben sie in der Tür angeschossen. Die Polizisten prügeln auf die Männer ein und bringen sie weg.

Jetzt ist alles vorbei. Ich möchte weinen, aber ich kann nicht. Der Sicherheitsminister ist da und sagt: "Sie sind sicher." Es werde ermittelt. Es muss Hintermänner geben, die Pistolen durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen geschmuggelt haben. Die Entführer mussten einen Tipp bekommen haben, dass wir an diesem Tag fliegen. Der Pilot kommt zu uns und sagt: "Happy Birthday." Er muss jetzt prüfen, welchen Schaden die Schüsse angerichtet haben. Schließlich gibt er grünes Licht, er könne fliegen. Die Passagiere steigen wieder ein, es ist jetzt sehr still im Flugzeug. Die Antonow hebt noch einmal ab, Kurs Dschibuti. Nun sind wir raus.

© SZ vom 05.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: