Flüchtlinge:"Machst Du das alles aus Mitleid?"

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Elmar Pichlmeier hat den syrischen Flüchtling Muhamad bei sich aufgenommen. In den 13 Monaten ihres Zusammenlebens haben sie eine Vater-Sohn-Beziehung aufgebaut. (Foto: privat)

Elmar Pichlmeier ist zum Ersatzvater für den Flüchtling Muhamad geworden. Beide erzählen von den Tücken des Alltags und einem Versprechen, das dem 73-Jährigen nun Angst macht.

Von Kerstin Lottritz

Elmar: Als Muhamad einen Monat bei uns wohnte, tippte er in die Übersetzer-App seines Smartphones eine Frage: "Sag mal, machst Du das alles aus Mitleid oder weil Du mein zweiter Vater sein willst?" Diese direkte Frage traf mich so sehr, dass ich keine Antwort wusste. Ich habe gespürt, dass Muhamad nach einer starken Bindung sucht. Aber ich brachte es auch nicht über mich, in die App zu schreiben: "Ich bin wie ein Vater für Dich." Ich ließ die Antwort also einfach offen, habe seine Hände genommen und ihn lachend angeschaut. "Das wirst Du schon merken!", war alles, was ich sagen konnte.

Elmar Pichlmeier hat im Oktober 2015 den syrischen Flüchtling Muhamad bei sich aufgenommen. Der 73-jährige Lehrer aus Baden-Württemberg war in einem Deutschkurs auf ihn aufmerksam geworden, weil er so traurig wirkte. Zögerlich fasste Muhamad Vertrauen zu seinem Lehrer und erzählte ihm, von seiner Heimat, seinem früheren Leben und wie er im syrischen Bürgerkrieg fast seine gesamte Familie verloren hat.

Elmar: Ich konnte nicht anders, ich musste ihn einfach bei uns aufnehmen. Das passiert einfach so, ohne dass ich eine Erklärung dafür habe. Das Leben hat mir schon zwei Mal zuvor die Vaterrolle zugespielt: Ich habe bereits zwei Jungen aus Sibirien und Kambodscha adoptiert. Zuerst hat Muhamad nur probeweise bei uns gewohnt, spätabends habe ich ihn wieder ins Flüchtlingsheim gefahren. Jetzt ist er zu meinem dritten Sohn geworden. Ich möchte ihn später auch adoptieren.

890 000 Asylsuchende sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen. Nach ihrer Registrierung wurden sie auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Wie viele von ihnen in privaten Haushalten aufgenommen worden sind, darüber gibt es keine Zahlen.

Die Flucht

Muhamad: Als die Bomben auf Aleppo fielen und meine Familie auseinandergerissen wurde, habe ich im Februar 2015 all meine Habseligkeiten gepackt und mich auf den langen Weg nach Deutschland gemacht. Acht Wochen später saß ich mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Schlauchboot - mitten in der griechischen Ägäis. Als unser Boot unterging, habe ich einem Freund, der nach Berlin wollte, alle meine Papiere anvertraut. Ich selbst bin dann drei Stunden lang bis zur nächsten griechischen Insel geschwommen. Die vielen schreienden Menschen um mich herum, die sich in der Nacht nicht retten konnten, werde ich niemals vergessen.

Auf seiner weiteren Flucht landete Muhamad nach eigenen Angaben für zwei Wochen in einem ungarischen Gefängnis, weil er ohne Papiere eingereist war. Schlepper brachten ihn schließlich über Österreich nach Bayern. Von dort schickten ihn die Behörden nach Baden-Württemberg, wo er provisorische Ausweispapiere erhielt. Im Deutschkurs in Ottersweier traf er schließlich auf Elmar Pichlmeier, der ihn bei sich zu Hause aufnahm.

Das Zusammenleben

Elmar: In den ersten Wochen hörte ich Muhamad nachts weinen. Die schrecklichen Erinnerungen an die Flucht, die Bombenangriffe auf seine Heimat Aleppo und die vergebliche Suche nach Eltern und Bruder machten ihm schwer zu schaffen. Ich wusste nicht, wie ich Muhamad trösten sollte. Er konnte ja nur ganz wenige Worte Deutsch. Und wäre es nicht übergriffig gewesen, als Mann einen jungen Mann einfach in den Arm zu nehmen? Wir kommunizierten oft nur mit Gesten oder der Übersetzungs-App.

Muhamad: Im ersten Monat konnten wir uns nicht verstehen. Wir haben fast nur über Google miteinander gesprochen. Aber Baba Elmar kann fühlen, was in meinem Herzen ist. Er ist für mich wie ein zweiter Vater.

Elmar: Als Muhamad mich fragte, ob er im Wohnzimmer beten dürfe, wenn sonst keiner im Haus sei, war das für mich gar kein Problem. Als er mich dann aber dabei im selben Raum haben wollte, gab es für mich schon ein Problem. Ich konnte nicht mehr Zeitung lesen, während er lautstark betete. Ich habe ihm also einfach zugehört. Wenn mir alles zu viel wurde, bin ich müde auf die Terrasse gegangen, um mal in Ruhe durchzuatmen. Muhamad ist mir dann kurze Zeit später nachgegangen, um mir beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen.

Muhamad: Manchmal haben wir kleine Probleme miteinander. Elmar ist ein Mensch, der nicht warten kann. Wenn er sagt, dass wir am nächsten Tag einkaufen müssen, steht er um sieben Uhr auf und will sofort los. Ich brauche nach dem Aufwachen eine Stunde Ruhe, frühstücke und kann dann aufbrechen. In der Küche macht Elmar immer Chaos. Wenn er kocht, ist nachher alles dreckig und er benutzt zu viele Töpfe und Teller. Das nervt mich. Deshalb koche ich meistens und Elmar isst alles, was ich zubereite.

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Im Behörden-Dschungel

In Syrien hat Muhamad als Busfahrer gearbeitet. Ein Beruf, mit dem er sich auch in Deutschland seinen Lebensunterhalt finanzieren könnte. Doch dazu benötigte er einen positiven Asylbescheid, eine Arbeitserlaubnis sowie die Anerkennung seines syrischen Führerscheins. Elmar Pichlmeier begleitete seinen Schützling stets zu den Behördengängen.

Elmar: Ich erlebte die deutschen Behörden als völlig überfordert. Monatelang war es nicht möglich, einen Antrag zu stellen. Im Migrationsamt war die Akte verloren gegangen. Wir stießen aber nie auf Bockigkeiten oder Willkür, denn ich konnte Muhamad dabei helfen, sein Anliegen immer wieder vorzutragen.

Durchschnittlich 5,2 Monate benötigte das Bundesamt für Migration im Jahr 2015, um über einen Asylantrag zu entscheiden. Mittlerweile sind die Verfahren - auch durch die Abarbeitung von Altfällen - beschleunigt worden.

Muhamad: Meine Dokumente wurden auf Deutsch übersetzt. Doch das Landratsamt benötigte das Original meines Führerscheins, um ihn mir hier in Deutschland anerkennen zu lassen. Ein entfernter Verwandter, der an der syrisch-türkischen Grenze lebt, organisierte mir ein zweites Original. Doch der Augenarzt zerstörte all meine Hoffnungen, hier als Busfahrer arbeiten zu können. Weil ich auf einem Auge leicht schiele, bekam ich nicht die Fahrerlaubnis für alle Klassen, sondern nur für Klasse B. Das war die schwerste Zeit meiner Trauer. Wie würde ich ohne den Busführerschein eine Zukunft haben?

Die Zukunft planen

Elmar: Muhamad lernte schnell Deutsch. Er wusste, dass er die Sprache beherrschen muss, wenn er hier arbeiten will. Ab dem dritten Monat bei uns war er in der Lage, verständlich zu sagen, was er erlebt hatte und was er tun möchte. Dadurch gewann er Selbstvertrauen.

Muhamad: Ich habe die theoretische Fahrprüfung auf Arabisch abgelegt und ein paar Fahrstunden genommen. In der Millionenstadt Aleppo konnte ich mich immer durch das Verkehrschaos kämpfen. Aber hier gibt es viele komplizierte Verkehrsregeln, die ich lernen musste. Mein Fahrlehrer war sehr geduldig. Mittlerweile habe ich den deutschen Führerschein erhalten.

Muhamad ist jetzt ein anerkannter Flüchtling und hat eine Arbeitserlaubnis. Aktuell sucht er nach einem Job als Fahrer. Zwar darf er keinen Bus lenken, aber immerhin einen Sprinter.

Nach Aleppo reisen

Muhamad: Als ich aus den Nachrichten erfuhr, dass Aleppo befreit ist, war ich sehr aufgeregt. Baba Elmar hatte mir vor vielen Monaten gesagt, dass er mit mir durch die Hölle gehen wird - und eines Tages zurück mit mir in meine Heimat Aleppo. Ich fragte ihn, wann das sein wird.

Elmar: Ich war fassungslos. Ja, das hatte ich gesagt. Jetzt rasten die Gedanken durch meinen Kopf. Ich in meinem Alter nach Syrien? In dieses kaputte Land, dessen Sprache ich nicht spreche, dessen Bräuche mir total fremd sind? Aber ich stehe zu meinem Wort.

Muhamad: Meine Zukunft sehe ich erstmal in Deutschland, aber ich kann mir vorstellen, irgendwann wieder nach Syrien zu gehen. Aber nicht ohne Elmar.

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