Eine Kindheit in Afghanistan:Mathe, Englisch, Krieg

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Er träumt davon, der "Cristiano Ronaldo von Afghanistan" zu werden, mag Comics und Fast Food. In vielem gleicht Jabir jedem westlichen Neunjährigen. Wenn da diese Furcht nicht wäre: Die Furcht, dass sich eines Tages ein Attentäter auch vor seiner Schule in die Luft sprengt.

Tobias Matern, Kabul

Hier wollte er auf keinen Fall bleiben. Die älteren Jungs ärgerten ihn, klauten seine Jacke und die Stifte. Jabir weinte viel, sehnte sich nach dem Garten mit den blauen und roten Blumen vor dem Haus der Familie, wo er so gerne spielt. "Damals habe ich die Schule gehasst", sagt er. Der schmale Junge schaut grimmig. Das ist zwei Jahre her. Jabir ging in die erste Klasse.

Seit zehn Jahren herrscht Krieg in Afghanistan, friedliche Zeiten hat der achtjährige Jabir (zweiter von links) nie erlebt. Die Schule ist für viele afghanische Kinder Zufluchtsort und Zukunftschance zugleich. (Foto: SZ/Tobias Matern)

"Heute ist alles anders", erklärt er mit weit geöffneten, grüngrauen Augen und strahlt. Die älteren Jungs lassen ihn in Ruhe. Die Lehrer haben ihm vor kurzem eine Medaille überreicht, weil er der Klassenbeste ist. "Die Schule macht Spaß", erklärt der Neunjährige in der kurzen Pause zwischen der zweiten und dritten Stunde.

Was ärmlich anmutet, ist purer Luxus

Mehr Zeit zum Reden gibt es im Moment nicht. Eines seiner Lieblingsfächer, Mathe, steht auf dem Plan. Jabir und 25 andere Schüler drängen sich in ein Klassenzimmer der Tameem Ansar High School im Westen Kabuls. Der Raum ist 12 Quadratmeter groß und riecht modrig. Ein kleines Fenster lässt etwas Sonnenlicht hinein.

Was ärmlich anmutet, ist hier purer Luxus: Etwa 14.000 Schulen gibt es in Afghanistan, das sind 10.000 mehr als vor neun Jahren, aber in jedem zweiten Fall wird entweder in Zelten oder unter freiem Himmel gelernt. Acht von zwölf Millionen Kindern im schulpflichtigen Alter können in Afghanistan nur davon träumen, Mathe, Englisch und Dari zu lernen.

In Jabirs Schule hingegen sitzen die Kinder zu dritt in einer Reihe und lauschen gespannt der Lehrerin. Sie tragen fliederfarbene Hemden mit dünnen Krawatten, dazu Stoffhosen. Kommt ein Fremder in den Raum, springen sie wie selbstverständlich von ihren Stühlen auf: "Guten Morgen, Sir", ruft der Chor.

Die Tameem Ansar High School ist eine Privatschule, im Monat fallen umgerechnet etwa 30 Euro Gebühren an - für afghanische Verhältnisse ist das viel Geld. Jabirs Eltern können sich das im Moment leisten, weil der Vater bei einer amerikanischen Hilfsorganisation Arbeit als Gärtner gefunden hat und mehr als ein afghanischer Beamter oder Polizist verdient.

Dafür erhält Jabir Extraunterricht in Englisch, der Computerraum und die Bibliothek an der Schule sind ordentlich ausgestattet. Aber selbst für Kinder wie ihn sind die Aussichten düster: "Nur wenige Schüler oder Absolventen der Universitäten finden Jobs, weil die Wirtschaft in unserem Land zu schwach ist", sagt Aziz Ahmad, Direktor der Privatschule.

Jabirs Vater Haji Kazim will seinem Sohn die besten Chancen in einem Land bieten, das seit mehr als 30 Jahren nur Krieg erlebt hat. Der Junge ist das fünfte Kind der Familie, ein Nachzügler. Sein schon 60 Jahre alter Vater träumte nach dem Sturz der Taliban von einem neuen, gewaltfreien Afghanistan. Im Jahr 2002 kam Jabir zur Welt, er sollte als erstes Familienmitglied in einem friedlichen Land aufwachsen - so Kazims Hoffnung.

Doch das ist ein Traum geblieben. Auch zehn Jahre nach dem Einmarsch des Westens ist die Sicherheitslage in Afghanistan katastrophal. In Jabirs Worten klingt das so: "Ich fürchte mich sehr davor, dass sich eines Tages ein Attentäter auch vor meiner Schule in die Luft sprengen wird."

Ein ruhiger Tag ist ein guter Tag

An der Tameem Ansar High School gibt es daher nicht nur Lehrer, sondern auch Betreuer wie Mohammad Arif, die dafür zuständig sind, den Kindern in Notsituationen beizustehen. Sie haben viel zu tun.

Arif erzählt von der Angst, die sich nach den vielen Attentaten in Kabul in den Kinderseelen ausgebreitet habe. Jedes Mal, wenn eine Bombe hochgeht und die Kinder davon erfahren, "zittern sie am ganzen Körper", sagt Arif. Am Tag nach Attacken bleiben meist ein Drittel der Sitze in den Klassenzimmern leer. Von den Kinder, die zum Unterricht kommen, wollten viele eines von Arif wissen: "Wird heute wieder etwas passieren?" Er kann die Frage natürlich nicht beantworten. Er kann nur versuchen, die Jungen und Mädchen zu beruhigen.

An diesem Tag bleibt alles ruhig. Als Jabir um kurz nach 13 Uhr die letzte Stunde hinter sich gebracht hat, schlendert er über die staubige, nicht asphaltierte Straße zum Haus seiner Eltern, in dem auch die drei Brüder und eine Schwester leben. Vor dem Mittagessen zieht der Junge seine Schuluniform aus, schlüpft in kurze Jeans, ein T-Shirt und ein kariertes Hemd. Er erzählt aufgeregt von seinen Zukunftsplänen. An der Universität in Kabul werde er Agrarwirtschaft studieren. Warum? "Weil da viele andere Jungs auch hingehen, mit denen ich dann spielen kann."

Sein Bruder Tamin bringt nun die dampfenden Schüsseln mit dem Essen ins Zimmer. Gegessen wird im Schneidersitz auf dem Boden. Haji Kazim, ein grauhaariger, 60-jähriger Mann mit Gebetskappe auf dem Kopf, schiebt mit den Händen Reis, Fleisch und Gemüse zusammen, bevor er das Gemisch in den Mund steckt. Das sind in Afghanistan keine ungewöhnlichen Essgewohnheiten. Kazim schwärmt von seinem jüngsten Sohn, der besonders intelligent und liebenswürdig sei, der sich immer bei ihm erkundige, ob ihm der Rücken von der Arbeit weh tue.

"Die ersten neun Jahre in Jabirs Leben waren ganz gut, auch wenn er noch nicht in Sicherheit aufwachsen kann", sagt Kazim. Aber dieses Schicksal teile sein Sohn mit fast jedem Menschen in Afghanistan. Vielleicht werde Jabir eines Tages in einem Land leben können, in dem Konflikte nicht mit der Waffe ausgetragen werden und "in das sich nicht immer die Nachbarländer Iran und Pakistan einmischen".

Er selbst, sagt Kazim, werde keine friedlichen Verhältnisse in seiner Heimat mehr erleben. Jabir sei jung genug, um darauf hoffen zu können.

Typische Jungen-Hobbys

Der Junge hört interessiert zu. Mit großem Appetit isst Jabir von dem Reis mit Rosinen, dem Hühnchen und dem warmen Fladenbrot. Jabir erzählt zwischen zwei Bissen von einem Kalligraphen, der an seiner Schule unterrichtet und heute Sinnsprüche an die Wände des Gebäudes gepinselt hat. "Wenn Du freundlich bist, werden Dich alle mögen" steht da nun, oder auch: "Es ist egal, was Du trägst, aber Du solltest Deine Sachen immer sauber halten."

Immer kann Jabir seine Sachen allerdings nicht sauber halten. Vor allem nicht beim Fußball. Den spielt er leidenschaftlich gern mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Auch seine anderen Hobbys sind nicht anders als bei Jungen im Westen. Er findet Comics und DVDs lustig - Tom und Jerry, Tim und Struppi, Kung-Fu-Panda und auch Ice Age. Wenn er dazu seine Lieblingsgerichte Pizza oder Burger esse, mache ihn das glücklich. In Kabul entstehen immer mehr Fast-Food-Läden, sogar Bringdienste werden etabliert.

Jabir ist beim Nachtisch angelangt, es gibt zuckersüße Melonen. Er redet nun von seinen Wünschen: ein eigener Computer, ein ferngesteuertes Auto und eine Satellitenschüssel, "damit ich im Fernsehen öfter die Spiele von Real Madrid sehen kann".

Einen kurzen Moment schweigt der Junge. Dann erklärt Jabir, dass er sich das mit der Universität und dem Agrarwirtschafts-Studium doch noch einmal anders überlegt hat. Sein eigentlicher Berufswunsch ist ein anderer: "Eines Tages will ich der Cristiano Ronaldo von Afghanistan werden", ruft er. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Jabir streift sich die Turnschuhe über und will endlich raus zu den andere Kindern, um Fußball zu spielen. Sie warten schon auf ihn.

© SZ vom 15.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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