Bundestag:Geburtsort: Reichstag

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Ein Licht in der "dunkelsten Stunde": Wie es dazu kam, dass Mareile Van der Wyst ein bevorzugtes Eintrittsrecht in Deutschlands Parlamentsgebäude genießt.

Von Benjamin Emonts

Für gewöhnlich deuten Menschen mit dem Finger auf ein Krankenhaus, wenn sie Freunden ihren Geburtsort zeigen. Oder sie halten vor einem in die Jahre gekommenen Wohnhaus. Bei Mareile Van der Wyst jedoch läuft das anders, wie sie amüsiert erzählt. Wenn sie Gäste zu ihrem Geburtsort führt, dann steht sie an der Pforte des Berliner Reichstagsgebäudes und zückt ihre Geburtsurkunde. Dem Wachpersonal sagt sie dann eindringlich, dass sie hier geboren sei und ein lebenslanges Eintrittsrecht habe. Das Ergebnis nach kurzen Beratungen ist dann immer dasselbe: "Gehen Sie schon rein", sagen die Wachleute. Und Mareile Van der Wyst stolziert ins Gebäude.

Van der Wysts Erzählung mag nur eine drollige Randnotiz sein, doch dahinter steckt eine bewegende Geschichte. Die Universitätsfrauenklinik der Berliner Charité nutzte den Keller des Reichstags während des Zweiten Weltkriegs zeitweise als nächtliche Station für hochschwangere Frauen, Wöchnerinnen und Neugeborene, um sie vor Bombenangriffen zu schützen. Die nationalsozialistischen Abgeordneten tagten seinerzeit in der Krolloper. An diesem Sonntag nimmt der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble 15 dieser "Reichstagsbabys", wie sie liebevoll genannt werden, mit warmen Worten in Empfang anlässlich des "Tages der Ein- und Ausblicke" im Parlament. "Es gab auch noch in dieser dunkelsten Zeit Licht - und das Licht sind Sie", sagt der Bundestagspräsident.

"Es gab auch noch in dieser dunkelsten Zeit Licht - und das Licht sind Sie", sagt Schäuble

Die 95-jährige Annemarie Lehmann ist wohl die einzige, die sich an eine Geburt in dem Keller noch erinnern kann, denn sie war es, die ihre Tochter Heidi Mangino am 29. Juli 1944 dort auf die Welt gebracht hat. "Es war eine schwierige Geburt, sie war ein starkes Mädchen, acht Pfund hatte sie", erzählt Lehmann und lacht. Ihre Hebamme, daran könne sie sich erinnern, sei über einen Tunnel aus der Reichskanzlei gekommen, in deren Bunker auch eine Geburtsstation untergebracht war. "Die Angst und die Nervosität waren immer da", denkt sie zurück.

Als Lehmann und ihre Tochter dann Hand in Hand vor Schäuble stehen, weinen beide, weil sie so gerührt sind. "Ich bin so glücklich, dass wir beide hier sein können", sagt die Mutter. "Ich bin so stolz auf meine Tochter."

Lehmanns Erzählungen sind umso wertvoller, weil über die Geschichte der Geburtsstation kaum etwas bekannt ist. Alle Unterlagen seien vernichtet, sagt Schäuble. Und eine Sprecherin des Bundestags teilt auf Anfrage mit: "Die Geschichte der Geburtsstation im Reichstagsgebäude ist - soweit uns bekannt - wissenschaftlich noch nicht detailliert erforscht." In einem Aktenvermerk des Reichsrechnungshofes vom 26. Juni 1941 heiße es lediglich, dass sich Anfang der 1940er-Jahre "für 204 Kinder und 39 werdende Mütter hergerichtete oder herzurichtende Luftschutzräume" im Keller des Gebäudes befanden. In welchem Zeitraum und wie viele Babys im Reichstag auf die Welt gekommen sind, weiß man also nicht. Schätzungen zufolge könnten es zwischen 1943 und 1945 zwischen 60 und 80 Säuglinge gewesen sein, teilt der Bundestag mit.

Die wichtigsten schriftlichen Zeugnisse dieser Episode sind Geburtsbücher des Standesamts Tiergarten und Geburtsurkunden, wie sie Mareile Van der Wyst mit sich rumträgt. "Mareile Christiane Hildegard Dieckhoff ist am 15. September 1944 in Berlin im Reichstagsgebäude geboren", steht darauf geschrieben. Van der Wyst, die früher Dieckhoff hieß, fragt sich bis heute, wie ihre Mutter es geschafft hat, trotz der Bombenangriffe jeden Abend von Berlin-Lichtenberg durch die zerstörte Stadt bis zum Reichstag zu pendeln. "Jeden Morgen, wenn ich nicht gekommen war, fuhr sie wieder zurück." Dann kam Mareile zur Welt. Sie entwickelte sich prächtig, machte Abitur, war im Ausland und heiratete einen US-Soldaten, mit dem sie bis heute in einem Vorort von Berlin lebt. Als der Bundestag 1999 nach Berlin umzog, habe ihr ein Verantwortlicher auf einer Feier zugesichert, jederzeit unangemeldet in den Reichstag kommen zu dürfen. Ihre Gäste aus den USA bringt sie seither immer zu ihrem Geburtsort. "Ich komme jederzeit und mit jedem", sagt sie

© SZ vom 09.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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