Bandenkriminalität in Dänemark:Mord am Vorzeigeaussteiger

Nedim Yasar, former gang member, is seen in this picture taken on February 3, 2017

Nedim Yasar, ehemaliger Bandenchef, befreite sich aus seiner Gang Los Guerreros. Nun wurde er mit 31 Jahren erschossen.

(Foto: Ritzau Scanpix/Reuters)
  • Ein ehemaliger Bandenchef ist unmittelbar nach der Vorstellung seines Buchs über die kriminelle Szene in Dänemark erschossen worden.
  • Nedim Yasar überlebte die Schüsse am Montag in Kopenhagen zunächst, war aber in einem kritischen Zustand.
  • Der 31-Jährige war zehn Jahre Mitglied der Los Guerreros, die die Bandidos unterstützen. 2012 stieg er mit Hilfe eines Exitprogramms der Polizei aus und lebte unter einer geheimen Adresse. Er fürchte um sein Leben.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

So wenige Jahre. So viel Angst. So viele Leben in einem: Flüchtlingskind in Dänemark, Gangster, Dealer, Radiomoderator, Jugendarbeiter, angehender Lehrer, Buchautor. All das in 31 Jahren nur. Früher, sagte Nedim Yasar einmal, habe es Zeiten gegeben, da habe er morgens nicht gewusst, ob er abends noch nach Hause kommen würde. Früher, das hieß: vor seinem Ausstieg. Früher, in seinem alten Leben. "Los Guerreros" nannte sich seine Gang damals. Die Krieger.

Lang ist das her, sechs Jahre. Nedim Yasar hat es gewusst, dass man ein Leben wie das seine nicht einfach hinter sich lässt. Es lässt dich nicht los. Er hat es trotzdem versucht. Und er hat geschafft, was andere nicht schaffen, gegen alle Zweifel. Er, der Gangster aus der Vorstadt, war zum Vorzeigeaussteiger geworden. Einer, der im Radio Kriminalität und Milieu analysierte, einer, der Jugendliche davor bewahren wollte, es ihm gleichzutun.

Am Montagabend trafen sie sich im Nordwesten Kopenhagens, in den Räumen des Jugendrotkreuzes, das für Nedim Yasar in den vergangenen Jahren so wichtig geworden war. Sie trafen sich, um zu feiern, ihn und das kleine Wunder, das ihm gelungen war. "Wurzeln. Der Ausstieg eines Gangsters", heißt das Buch, das seine Geschichte erzählt und das an diesem Abend der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Yasar hat dafür kooperiert mit der Journalistin Marie Louise Toksvig, die gemeinsam mit ihm beim Sender Radio 24svy die Sendung "Politiradio" moderierte. Gestrahlt habe er während der Veranstaltung, erzählte Jakob Kvist hinterher, der Verleger des Buches: "Er war stolz."

Und dann: zwei Schüsse, auf offener Straße, unmittelbar nach der Lesung, ein paar Meter weiter nur. Nedim Yasar erlag seinen Verletzungen am Dienstag, im Krankenhaus. Die Polizei sucht nach einem dunkelhaarigen Mann. Auf der Webseite der liberalen Zeitung Politiken erschien kurz nach der Tat eine Rezension des Buches. "Was für eine unglückliche Geschichte", schrieb der schockierte Rezensent. "Einfach zu lesen, schwer zu akzeptieren."

Nedim Yasar stammt aus einer türkischen Familie. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie nach Dänemark. Der Vater, ein politischer Flüchtling, soff und schlug seine Frau und Kinder. Die Mutter warf ihn raus, flehte ihre Kinder an, ihre Schullaufbahn zu vollenden. "Und dann wurden mein kleiner Bruder und ich ausgerechnet mehr und mehr wie mein Vater", erzählte Yasar vor ein paar Jahren in einem Interview mit Politiken. Er begann Streit zu suchen, sich mit anderen Kindern zu prügeln. Als Sechstklässler schleuderte er einer Lehrerin eine Tasse mit heißem Kakao ins Gesicht, da flog er von der Grundschule. Er hing ab vor den Clubs seiner Heimatgemeinde Ballerup, lernte dort Ältere kennen, die ihn ins Hasch-Dealen einführten. Bald hatte er mehr Geld, als seine Familie jemals gesehen hatte. Als er 16 war, kaufte er seinen ersten BMW, fuhr ihn zu Schrott, ließ ihn reparieren und schenkte ihn seinem Vater. "Der fragte nicht einmal, woher ich das Auto hatte", erzählte Yasar. "Er freute sich total."

Mit 17 saß er das erste Mal im Gefängnis, später gründete er zusammen mit anderen muslimischen Jugendlichen aus seiner Nachbarschaft die Bande "Los Guerreros". Sie verdienten ihr Geld vor allem mit Hasch, aber auch mit Erpressung und dem Eintreiben von Schulden. Sie taten vieles davon im Auftrag einer weit mächtigeren Gruppe, der auch in Dänemark gefürchteten Rockergang "Bandidos".

Erste Zweifel, sagte Yasar, habe er in den Jahren 2008 und 2009 bekommen, damals eskalierten die Bandenkriege in Kopenhagen, Schießereien waren an der Tagesordnung, Morde auch. "Mit einem Mal starben Menschen, hier im kleinen Dänemark", sagte Yasar. 2012 wurde er Vater, bekam einen Sohn. Ihn begann der Gedanke zu quälen, dem Sohn könnte etwas zustoßen oder, vielleicht schlimmer noch: Der Sohn könnte eines Tages so werden wie er. Als er wieder einmal im Gefängnis saß, fasste Nedim Yasar den Entschluss, auszusteigen.

Die Behörden nahmen ihn auf in ein Programm für Aussteiger, brachten ihn zunächst allein in einer Hütte im Wald unter. Yasar wusste, dass er schon mit seinem Ausstieg gegen den Loyalitätskodex der Gangs verstoßen hatte. Er hatte Albträume. "Ich ging nie ohne Messer los", erinnerte er sich. "Jedes Mal, wenn ich eine Harley sah, schlug mein Herz wie verrückt."

"Es ist ein Angriff auf unser aller Recht, frei und sicher zu leben"

Nedim Yasar aber tat dann, aus Sicht seiner ehemaligen "Brüder", noch weit Verwerflicheres: Er begann zu sprechen. In der Radiosendung "Politiradio" wurde er zum Experten für Jugendkriminalität. Bei einem Aussteiger- und Präventionsprogramm des Roten Kreuzes begann er, Jugendliche zu beraten und vor dem Abrutschen in die Kriminalität zu warnen. Für ihn war die Arbeit eine Offenbarung: "Mit einem Mal war ich Teil von etwas Größerem", sagte Yasar.

Er redete an gegen die Romantisierung des Gangsterlebens, gegen die verqueren Vorstellungen von "Ehre" und "Loyalität". Die Angst blieb. Im Jahr 2017 soll es schon einmal einen Angriff auf ihn gegeben haben. Er lebte an einem geheimen Ort.

Noch gibt es keine Hinweise auf den Täter, aber die meisten Kommentatoren glauben: Das war ein Racheakt der Gangs. "Sie wollten ihn zum Schweigen bringen", sagt Jørgen Ramskov, der Geschäftsführer von Radio24syv. "Sie wollen all die einschüchtern, die frei sprechen wollen. Es ist ein Angriff auf unser aller Recht, frei und sicher zu leben und unsere Meinung zu äußern." Als sich die Nachricht vom Tod Yasars verbreitete, legten Nachbarn und Freunde am Tatort Blumen nieder.

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