Attentäter von Boston:Die bizarre Bibliothek der Zarnajews

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Am liebsten wäre es den US-Ermittlern wohl, die Attentäter von Boston hätten aus radikalislamischen Motiven gehandelt. Punkt. Dass die Hintergründe des Anschlags weitaus komplexer sind, legen Recherchen zweier Medien nahe. Sie haben unter anderem die Bibliothek der Brüder ausgewertet.

Mit den Anschlägen beim Boston-Marathon brachten die Brüder Zarnajew den USA die tiefe Verunsicherung zurück, die mehr als zehn Jahre nach dem 11. September 2001 endlich überwunden schien. Für viele Kommentatoren verkörpern sie den Typ des homegrown terrorist, genauer: des homegrown islamic terrorist. Den typischen, vorbildlich integrierten Muslim, der sich vor dem Heim-PC in seinem Haus in einem amerikanischen Vorort selbst radikalisiert, sich online Wissen über Bombenbau beschafft und schließlich Anschläge verübt. In seinem (neuen) Heimatland USA.

Tatsächlich wird am Fall der 19 und 26 Jahre alten Männer mit tschetschenischen Wurzeln etwas völlig anderes deutlich. Dass es den einen typischen homegrown terrorist nämlich nicht gibt. Darauf wies schon die Frage hin, ob und in welchem Maße der bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei getötete Tamerlan seinen jüngeren Bruder Dschochar beeinflusst hatte. Recherchen der britischen BBC und des amerikanischen Wall Street Journal (WSJ) zeigen nun, dass die Motivlage der Zarnajews weitaus komplexer ist, als bislang kolportiert wurde und als es den Anklägern im anstehenden Strafprozess womöglich lieb ist.

Berichten der beiden Medienhäuser zufolge surfte Tamerlan nicht nur auf radikalislamischen Seiten im Netz, sondern beschäftigte sich auch mit rechtsextrem gefärbten Verschwörungstheorien, vermittelt durch Zeitungen und Schriften aus US-Verlagen. Darunter laut WSJ The Sovereign, eine Zeitschrift, die in den USA eine geheime israelische Elite am Werke sieht. Zudem habe Zarnajew probeweise die American Free Press abonniert, eine Publikation, die antisemitische Verschwörungstheorien verbreite.

Die BBC berichtet, dass sich in Tamerlans Besitz darüber hinaus Schriften über die "Vergewaltigung unseres Waffenrechts" und über die Geistesverfassung von Massenmördern befanden. Die Bibliothek wurde laut WSJ komplettiert von Berichten über Hypnose und Methoden, andere durch Geisteskraft zu beeinflussen.

Als ob das nicht schon krude genug wäre, scheint ein Teil der Schriften von einem älteren Herrn zu stammen, der bei einer Schießerei vor 40 Jahren Teile seines Verstands eingebüßt hat und den sich die Mutter der Zarnajew-Brüder zeitweise als Pflegerin betreute.

Tamerlan war ein "Bequemlichkeitsmoslem"

Neben dieser bizarren Bibliothek präsentiert die BBC einen weiteren Hinweis darauf, dass sich der talentierte Boxer Tamerlan, der - nach allem was man weiß - tief enttäuscht wurde, als er wegen fehlender US-Staatsangehörigkeit nicht zu nationalen Wettkämpfen zugelassen wurde, nicht ohne Weiteres in die Schublade des Dschihadisten stecken lässt.

Boston-Attentäter Zarnajew
:Vom Terroristen zum Coverboy

Das Magazin "Rolling Stone" zeigt den Attentäter Dschochar Zarnajew auf dem Cover - und hebt den Kleinmädchen-Hype um den Bombenleger von Boston auf eine neue Stufe. Um der Glorifizierung ein Ende zu setzen, veröffentlicht ein Polizeifotograf unerlaubt neue Bilder von der Festnahme.

Von Felicitas Kock

Der britische Sender lässt eine Sprecherin von Tamerlans Moschee im Bostoner Vorort Cambridge zu Wort kommen. Nicole Mossalam berichtet, dass der 26-Jährige nur gelegentlich kam, um zu beten. "Wenn es darum geht, mit der islamischen Gemeinde hier eine Verbindung aufzubauen, zu beten, sich zu engagieren, wohltätig zu sein, das fehlte. Ich würde sagen, er war vielleicht nur ein Bequemlichkeitsmoslem." Dschochar, der überlebende Bruder, war vermutlich nicht einmal das. Freunde des scheinbar vorbildlich integrierten 19-Jährigen berichten, er habe so gut wie gar nicht gebetet. Aber viel gefeiert und gekifft.

Über die tatsächlichen Hintergründe der Tat wird Amerika womöglich nie alles erfahren, frühestens der Prozess gegen Dschochar könnte neue Einblicke liefern. Am 11. Juli wurde ihm im Beisein vieler Opfer und Angehöriger die Anklage verlesen, die dreißig Punkte umfasste, darunter vierfacher Mord und der Gebrauch einer Massenvernichtungswaffe. Da sein Fall nicht im Bundesstaat Massachusetts, sondern vor einem nationalen Gericht verhandelt wird, droht Dschochar bei einer Verurteilung die Todesstrafe. Bis das eigentliche Verfahren beginnt, dürften jedoch noch Monate vergehen. Dschochar Zarnajew plädiert auf nicht schuldig.

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