Anschläge in Norwegen:Anruf vom Massenmörder

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Immer neue Patzer und Pannen der Polizei kommen ans Licht: Als Anders Breivik am 22. Juli auf der Insel Utøya ein Blutbad anrichtete, versagte ein Funksystem der Polizei, die Beamten rückten im Auto statt im Hubschrauber an. Außerdem soll der Attentäter mit der Polizei telefoniert haben, während er auf seine Opfer schoss - weil er sich ergeben wollte.

Gunnar Herrmann

Der Killer wollte sich ergeben - aber keiner hörte ihm zu. Es ist eine schlimme Behauptung, die Geir Lippestad, Anwalt des geständigen Massenmörders Anders Behring Breivik, in der Freitagsausgabe der Zeitung Aftenposten äußert. Zehnmal versuchte Breivik demnach während des Massakers auf Utøya die Polizei anzurufen. Zweimal erreichte er sie und bot seine "Kapitulation" an, bekam aber keine Antwort. Das, sagte Lippestad, habe sein Mandant im Verhör erklärt.

Auf der Insel Utøya starben 69 Menschen. Nun wird untersucht, ob die Polizei den Attentäter schneller hätte stoppen können. (Foto: dapd)

Sind das nur Lügen eines Schwerverbrechers? Oder hätte man den Anschlag auf der Insel mit einem Gespräch verkürzen und einige der 69 Opfer retten können? Dieser und vielen anderen Fragen will das norwegische Parlament nun mit einer Sonderkommission auf den Grund gehen.

Es war keine angenehme Woche für die Beamten im Osloer Polizeihauptquartier. Die Medien decken in diesen Tagen immer neue Patzer und Pannen rund um den Einsatz am 22. Juli auf. Vieles ist unklar, manches Spekulation, aber einiges ist bestätigt. So dauerte es nach den ersten Schüssen etwa 80 Minuten, bis eine Spezialeinheit aus Oslo mit Auto und Boot den 40 Kilometer entfernten Tatort Utøya erreichte. Polizei- und Armeehubschrauber blieben unterdessen ungenutzt in der Hauptstadt zurück.

Die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften war gestört, weil ein neues Funksystem nicht richtig funktionierte. Die Beamten hatten außerdem kein geeignetes Boot, um nach Utøya überzusetzen. Statt vom nächstgelegenen Steg, der etwa 700 Meter von der Insel entfernt liegt, startete man die Überfahrt von einer 3,6 Kilometer entfernten Anlegestelle. Und wegen eines Motorschadens musste die Spezialtruppe dann auch noch Mitten auf dem Tyrifjord-See von ihrem Schlauchboot in zwei private Boote umsteigen, die zufällig vorbeikamen. Jetzt sollen die Beamten Erklärungen liefern.

Johan Fredriksen, Stabschef der Osloer Polizei, sagt, die Einsatzbereitschaft lasse sich verbessern. Aber am 22. Juli sei es einfach nicht schneller gegangen. Die Polizei könne schließlich nicht an jedem See ein Boot haben. Und der einzige Polizeihubschrauber Oslos sei nur für Überwachung geeignet, nicht für den Transport von Spezialkräften. Die Zeitung VG berichtete dagegen unter Berufung auf anonyme Quellen, es wäre durchaus möglich gewesen, den Helikopter mit einem Scharfschützen nach Utøya zu schicken, um Breivik aus der Luft zu stoppen. Die Beamten, die das der Zeitung erzählten, sagten außerdem, man habe ihnen "einen Maulkorb verpasst".

Zudem stand zum Zeitpunkt des Massakers ein Militärhubschrauber startbereit am Osloer Flughafen. Fredriksen entgegnete, der sei für den Rettungsdienst reserviert gewesen, um Verletzte aus der Innenstadt zu transportieren. Dort herrschten am 22. Juli chaotische Zustände. Der Attentäter hatte im Regierungsviertel eine Autobombe gezündet, bevor er zu seinem zweiten Anschlagsziel Utøya fuhr.

Das Chaos erklärt vielleicht auch, warum der erste Notruf von der Insel erst eine gute Viertelstunde nach den ersten Schüssen registriert wurde. Hunderte Menschen wählten an diesem Nachmittag die 112. Dass auch Breivik unter ihnen war, ist wahrscheinlich. Man habe mit jemandem telefoniert, der vermutlich Breivik gewesen sei, bestätigte Ermittlungsleiter Pål Kraby am Freitag. Wie oft und mit welchem Ergebnis, sagte er nicht.

Der geständige Mörder hat seinem Anwalt zufolge erklärt, er habe sich bei den Telefonaten als "Kommandant Breivik" gemeldet und gefragt, ob die Polizei seine "Kapitulation" annehme. Die Antwort habe er nicht verstanden und darum um Rückruf gebeten. Als der nicht kam, mordete er weiter. Der Spezialeinheit ergab er sich dann widerstandslos.

Die Beschreibung deckt sich mit Berichten von Augenzeugen, denen zufolge der Attentäter während des Anschlages eine Feuerpause einlegte. Norwegens Polizei will möglichen Versäumnissen nun in einer internen Untersuchung nachgehen. Das Parlament hat außerdem eine Sonderkommission "22. Juli" ins Leben gerufen. "Wir wollen aus dem Terrorangriff lernen, mit dem Ziel, dass es nicht wieder geschieht", sagte Premier Jens Stoltenberg, als er am Freitag das zehnköpfige Expertengremium präsentierte. "Alle Fakten kommen auf den Tisch." Eine Sache sei schon jetzt sicher: Geheimdienst und Polizei werden künftig mehr Geld bekommen.

© SZ vom 13.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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