Amoklauf in München:Er mordete in der Öffentlichkeit - und suchte sich seine Opfer wohl gezielt

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  • David. S. war ein Einzeltäter. Aber was war seine Tat? Ein Amoklauf, wie es sie an Schulen gab, oder ein Attentat?
  • Die größeren Gemeinsamkeiten bei der Tat des David S. gibt es zu dem Attentat des Norwegers Anders Behring Breivik.
  • Die Tatorte, ein Schnellimbiss und ein Einkaufszentrum, sowie die Tatzeit deuten daraufhin, dass David S. es auf eine bestimmte Gruppe abgesehen hatte.

Von Johanna Bruckner

Sie drangen in jene Schulen ein, die sie besuchten oder kurz zuvor noch besucht hatten, mit der Absicht, möglichst viele Menschen zu töten. Schüler und Lehrer. Zwei von ihnen gelang das: Der 19-jährige Robert S. ermordete 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt 16 Menschen, darunter einen Polizisten. Tim K., 17 Jahre alt, erschoss 2009 in der Albertville-Realschule und einem Autohaus in Winnenden 15 Menschen. Der 18-jährige Sebastian B. verletzte 2006 an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten fünf Menschen, dann nahm er sich selbst das Leben. Seit Freitagabend gibt es einen weiteren Namen, einen weiteren jugendlichen Mörder in Deutschland: David S., 18 Jahre alt, aus München.

Um kurz vor 18 Uhr am Freitagabend eröffnet der Jugendliche in einer McDonald's-Filiale gegenüber des Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) das Feuer. Am Ende dieses Freitagabends wird David S. neun Menschen getötet haben. Und die Polizei wird nicht mehr von Terror sprechen, sondern von einem Amokläufer.

Video-Aufnahmen
:Angriff am McDonald's

Im Internet kursieren Videos, die eine Schießerei vor einem McDonald's und eine Eskalation auf einem Parkdeck zeigen. Vieles deutet darauf hin, dass sie authentisch sind - die Anzeichen verdichten sich, dass die Aufnahmen den Täter zeigen und Hinweise auf seine Motive geben.

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Tatsächlich erinnert die Bluttat von München an School Shootings: Ein gerade einmal 18-Jähriger tötet scheinbar gezielt junge Menschen - acht von neun Todesopfern sind zwischen 14 und 20 Jahren alt. Auch die Orte, ein Schnellimbiss und ein Einkaufszentrum, sowie die Tatzeit am späten Nachmittag deuten daraufhin, dass David S. es auf eine bestimmte Gruppe abgesehen hatte. Als der 18-Jährige seinen tödlichen Plan in die Tat umzusetzen begann, waren viele Erwachsene noch im Büro oder gerade erst auf dem Weg in den Feierabend.

"Charakteristisch ist ein spontaner, explosionsartiger Gewaltausbruch"

Die Polizei vermutet außerdem, dass er mithilfe eines gefälschten oder gehackten Facebook-Profils versuchte, junge Leute in die McDonald's-Filiale zu locken. Als "Selima Akim" soll er unter anderem geschrieben haben: "Kommt heute um 16 Uhr Meggi am OEZ ich spendiere euch was wenn ihr wollt aber nicht zu teuer." Und David S., so sagt es die Polizei, habe sich intensiv mit dem Thema Amokläufe beschäftigt. Er soll Tim K., den Schützen von Winnenden, bewundert haben.

Ist David S. also ein jugendlicher Amokläufer, der sich keine Schule, sondern einen anderen Ort zum Morden ausgesucht hat, einen öffentlichen Ort? Wie ist diese Tat einzuordnen? Vermutlich war sie zumindest geplant - was gegen eine Impulstat sprechen würde, wie sie ein Amoklauf per Definition ist.

Experten wie der Entwicklungspsychologe Vincenz Leuschner, Mitinitiator des Projekts "Networks Against School Shootings", weisen schon länger daraufhin, dass der Begriff "Amokläufer" für Täter wie Robert S., Sebastian B. und Tim K. wissenschaftlich umstritten ist und wenig bei der Aufklärung solcher Fälle hilft. "Charakteristisch ist ein spontaner, explosionsartiger Gewaltausbruch, der sich gegen zufällig anwesende Personen richtet. Auf die allermeisten Schulmassaker treffen diese Merkmale nicht zu", sagte Leuschner in einem Interview mit der SZ.

Die Jugendlichen bereiteten ihre Gewaltakte gründlich vor und suchten sich ihre Opfer gezielt aus. "Von ihrer Entstehung her ähneln solche Taten eher terroristischen Anschlägen." Häufig gehe dem Gewaltakt ein Radikalisierungsprozess voraus, nur dass dieser nicht politischer, sondern persönlicher Natur sei - "ausgelöst durch ein einschneidendes Erlebnis", erklärte Leuschner. "In der Folge bauen sich die Betroffenen ein Feindbild auf." Ein Amateurvideo, das David S. auf dem Dach eines Parkhauses am OEZ zeigt, dokumentiert einen Wortwechsel mit wütenden Anwohnern. An einer Stelle brüllt David S.: "Wegen euch bin ich gemobbt worden sieben Jahre lang. Und jetzt musste ich mir eine Waffe kaufen, um euch alle abzuknallen."

Tragischerweise könnte den Jugendlichen im Vorfeld seiner Tat ein Buch inspiriert haben, das eigentlich zur Aufklärung und Verhinderung von School Shootings geschrieben wurde. In der Wohnung der Familie S. wurde das Buch "Amok im Kopf: Warum Schüler töten" des Psychologen Peter Langman gefunden. Eine Kernthese von Langman ist:

Schul-Amokläufer sind gestörte Individuen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die sich für Mobbing rächen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die zu viel Videospiele spielen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die einfach mal berühmt sein wollten. Es sind einfach keine normalen Jugendlichen.

In dem Video vom Parkhaus-Dach sagt David S., dass er in stationärer Behandlung gewesen sei. Auch wenn sich eine psychische Störung und ein geplantes Vorgehen wie bei einem politischen Attentat für den Laien ausschließen mögen - beides ist kein Widerspruch, wie der Fall des Norwegers Anders Behring Breivik zeigt, der 2011 im Osloer Regierungsviertel und auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen ermordete. Gutachter kamen in Bezug auf die geistige Gesundheit des Massenmörders zu unterschiedlichen Ergebnissen, zumindest aber scheint bei ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorzuliegen.

Konflikte mit dem traditionellen Männlichkeitsbild

Auch mit Breivik könnte David S. sich beschäftigt haben. Der Münchner Polizeipräsident Hubertus Andrä sagte auf einer Pressekonferenz am Samstag, angesichts der Obsession des Jugendlichen liege das nahe. Mit Breivik gemeinsam hat David S. die öffentlichen Orte, an denen er mordete. Auch die Tatsache, dass er sich selbst eine Waffe besorgte, eine Glock-17 mit abgefeilter Seriennummer, erinnert eher an das Vorgehen eines Attentäters wie Breivik, als an das eines Amokläuferswie Tim K..

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Und möglicherweise gibt es auch bei der Motivlage Überschneidungen: Entwicklungspsychologe Leuschner zufolge spielen bei Gewalttaten, die von jungen Männern begangen werden, häufig Konflikte mit dem traditionellen Männlichkeitsbild eine Rolle. "Es ist schon auffällig, wie sehr die Selbstinszenierung der Täter den einsamen Rächer, den 'Desperado' verherrlicht, wie wir ihn aus Hollywood kennen. An diesem Bild orientieren sich im Übrigen nicht nur School Shooter, sondern auch terroristische Attentäter wie Breivik."

So viel ist bekannt: David S. kleidete sich am Tag, an dem er neun Menschen erschoss, in dunklen Farben.

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