Theater:Beklemmendes Lehrstück

Lesezeit: 2 min

Christ und Moslem - die Stuttgarter Schauspieler Lukas Ulrich und Till Florian Beyerbach - in einer Zwangsgemeinschaft auf hoher See. (Foto: Hartmut Pöstges)

Volkshochschule und Asylkoordination Geretsried holen das Zwei-Mann-Theater "Nach Europa" auf die Bühne der Ratsstuben

Von Anja Brandstäter, Geretsried

"Wofür hast du gelebt? Wofür habe ich gemordet? Warum sind wir geflohen?" Das fragen sich zwei Flüchtlinge auf hoher See. Seit Tagen treiben sie auf einem kleinen Holzboot ohne Orientierung dahin. Sie haben Hunger und Durst, es ist unerträglich heiß - ihre Situation scheint aussichtslos zu sein. Die Szene spielt sich auf der Bühne der Ratsstuben in Geretsried ab. Die Volkshochschule (VHS) hat zu dem Theaterstück "Nach Europa" eingeladen. Die Stuttgarter Schauspieler Lukas Ulrich und Till Florian Beyerbach stellen einen Christen und einen Moslem dar, die einzigen Überlebenden eines Flüchtlingsboots auf dem Weg nach Europa. Der eine floh, weil er als Christ verfolgt wurde, der andere kämpfte fanatisch für einen Gottesstaat, mordete und schändete. Opfer und Täter im Überlebenskampf.

Und dann leckt auch noch das Boot. "Wir können nur überleben, wenn sich jeder anstrengt bis an den Rand seiner Kräfte. Also schöpf", sagt der Christ. "Ich will leben." Trotz der Ausweglosigkeit ihrer Situation fällt es den beiden schwer, sich von ihrer religiösen Prägung zu lösen. Ein verbaler Schlagabtausch beginnt: "Wir müssen uns ertragen", sagt der Christ. "Deine Sanftmütigkeit bringt mich zur Weißglut," antwortet der Moslem.

Das Stück zeigt, welche Strahlkraft das freie, demokratische Europa auf Menschen ausübt. Wie verzweifelt müssen sie sein? Welche Zukunftshoffnungen schweben ihnen vor? Aber sie haben durch Fernsehen und Internet auch völlig falsche Vorstellungen von Europa als einem Schlaraffenland - alle haben alles, alle sind gesund, hübsch und glücklich. Was senden wir da in die Welt hinaus?

Eine grandiose Lasershow trägt wesentlich zur Spannung des vielschichtigen Theaterstücks bei: Ein Laserstrahl wandert wie ein Suchscheinwerfer knapp über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Aus den Lautsprechern tönt der Sound eines Helikopters auf Menschenjagd, Nebel verhüllt den Saal. Die Schauspieler kommen mit nur einer Requisite aus: einer Holzkonstruktion, die das Bootsgerippe symbolisiert und sich schnell für die verschiedenen Szenen zu einem Rahmen oder zu Buchstaben umbauen lässt. Für die Dramaturgie zeichnet Uwe Hoppe verantwortlich.

Neben den beiden Flüchtlingen verkörpern die Schauspieler die vielen Profiteure der humanen Katastrophe. "Solange es Krieg gibt, gibt es für uns genug zu tun. Wenn sie wieder kommen, brauchen sie Land. Das verkaufen wir ihnen dann", sagen sich sie Schleuser. Menschenmassen müssen einfach irgendwo hin verschoben werden, so hört man zwei Kommandanten, die sich über Funk verständigen: "Kommandante!", "Kommandante! Alles im Griff?", "Alles im Griff und bei Ihnen?", "Mein Land ist zu fünfzig Prozent entvölkert, Hilfssendungen werden immer unnötiger, die karitativen Organisationen fahren ihre Lieferungen zurück. Die europäischen Grenzen müssen dichtgemacht werden." Während die Flüchtlinge auf dem Meer dahintreiben, nähert sich ein riesengroßes Kreuzfahrtschiff. Die Hilferufe der beiden werden von den Motorengeräuschen verschluckt. Zwei korrupte Wirtschaftsbosse feiern ausgelassen ihre guten Geschäfte und stoßen mit Champagner an: Sie versorgen die Kriegsparteien mit Waffen. Derweil werden die Abfälle der abgegessenen Buffets ins Meer gekippt. Die beiden Notleidenden versuchen, soviel es geht zu erhaschen.

Lukas Ullrich und Till Florian Beyerbach stehen nach der Vorstellung für Diskussionen bereit. "Freiheit und Frieden in Europa sind nicht selbstverständlich", sagen sie, man müsse tagtäglich dafür einstehen. Die Produktion richtet sich an Schüler ab dem 14. Lebensjahr und kommt direkt an die Schulen. Zur Abendveranstaltung sind hauptsächlich Erwachsene gekommen. Eingeladen hatten die VHS und Asylkoordinatorin Suzan Jarrar. "Wir sind ein gutes Beispiel, dass es auch ohne Streit geht", sagt am Schluss VHS-Leiterin Beate Ruda und legt ihren Arm um die Schulter von Suzan Jarrar.

© SZ vom 13.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: