SZ-Serie: Mythen und Sagen, Folge 9:Ruchlos und Ruhelos

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In Wolfratshausen erschreckt das "Marktgschlerf" die Menschen, weil der Geist in jedes Fenster sehen kann. Ihren Ursprung nehmen alle Versionen der Legende in der Wirtin Rena Zapf und ihren grausamen Taten.

Von Wolfgang Schäl, Wolfratshausen

Ortstermin im Wolfratshauser Ochsenbräugassl. Es ist Ende Dezember, ein schneidend kalter, zugiger Vormittag, wir sind verabredet mit dem Marktgschlerf. Nicht mit dem richtigen, denn ob die geheimnisvolle Gestalt immer noch umgeht in der Stadt, wer weiß das schon so genau? Gesehen hat es jedenfalls schon lange niemand mehr. Nein, unser Marktgschlerf ist ein wirklich greifbares, lebendiges, es ist ebenso bekannt, nur weitaus beliebter als das gleichnamige Gespenst, das seit dem 13. Jahrhundert angeblich ruhelos am Markt und in den Gassen am Fuße des Bergwaldes spuken muss - es ist Gabriele Rüth von der Loisachtaler Bauernbühne.

Was geistert so spät durch Nacht und Wind? In Wolfratshausen wird es das "Marktgschlerf" sein, das auf ewig in den Gassen der Stadt umgeht.

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(Foto: Hartmut Pöstges)

Lassen die Sage lebendig werden: Jörg Schwenger (links) als Richter Ganter, Hermann Paetzmann (Mitte) als Pilger Nantovinus und Gabriele Rüth als Rena Zapf alias "Marktgschlerf".

Sie ist bei den Wolfratshauser Stadtführungen seit jeher das Marktgschlerf, und sie hat eigens das historische Kostüm angezogen, das sie dann immer trägt. Es ist dem Gewand der Rena Zapf nachempfunden, von der gleich noch zu reden sein wird. Erschienen ist Rüth in Begleitung des Pilgers Nantovinus (Hermann Paetzmann), der in einer von zwei voneinander abweichenden Marktgschlerf-Versionen eine wichtige Rolle spielt, und des ruchlosen Rechtspflegers Ganter (Jörg Schwenger), der gemeinsam mit Rena den bedauernswerten Nantovinus durch ein Mordkomplott in einen grausamen Tod getrieben haben soll. Beide tragen ebenfalls historische Gewänder, denn auch sie treten bei den Stadtführungen auf. Ein besonders auffälliges Requisit, das die Beiden mitführen, sind die schweren, gusseisernen Handschellen, mit denen man den frommen Pilger einst abgeführt hat.

Großer Festzug zum 50. Geburtstag der Stadt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Rüth hat ein weißes Häubchen auf dem Kopf ("das haben damals alle Frauen getragen, wegen der Läuse") mit einem dicken, angenähten flachsfarbenen Zopf, außerdem ein weißes Kleid, ein dunkles Wams und eine Umhängetasche, weil die Rena für ihr einnehmendes Wesen bekannt war - eine Eigenschaft, die sie mit dem Richter Ganter offenbar sehr verbunden hat. Das Bild des Marktgschlerfs taucht in zwei voneinander abweichenden Versionen auf. Die einen, etwa in Alexander Höppners "Bayerischen Sagen" oder bei der Volkskundlerin Gisela Schinzel-Penth, beschreiben es lediglich als eine mit schäbigem Wollrock gekleidete Gestalt mit wirrem Haar und schmal verbrämtem Pelzhäubchen, die als Hebamme einmal den Tod eines Neugeborenen verschuldet, ja bewusst herbeigeführt habe, weshalb ihr vom Schicksal auferlegt wurde, in der Marktstraße herumzugehen und durch die Fenster zu schauen. Wehe dem, der ihrem düsteren Blick ausgesetzt war - ihm dräuten Krankheit, Tod, Feuersbrunst und sonstiges Unheil. Zu Lebzeiten trug sie angeblich genagelte, eisenbeschlagene Holzpantinen, die sie immer leicht hinter sich herziehen musste. Dabei entstand ein schlurfendes Geräusch, das dem Gespenst dann seinen Namen gab. Dieses Marktgschlerf soll vornehmlich nachts unterwegs gewesen und manchmal wie ein Sturmwind durch die Stadt gerast sein, bis morgens der Spuk ein Ende fand. Besonders Hausfrauen soll es erschreckt haben, deren Männer nicht daheim waren. Mitunter soll es aber auch nur ruhig und teilnahmslos auf einer Bank gesessen haben.

Daneben gibt es eine zweite Version, die das Gespenst zwar genauso beschreibt, inhaltlich aber an die Nantovinus-Legende anknüpft. Demnach soll das Markt-gschlerf Rena Zapf gewesen sein, die dieser erweiterten Sage zufolge nicht eine einfache Hebamme war, sondern stadtbekannte Engelmacherin für Frauen, die ungewollt schwanger waren. Sie sei die Wirtin des Feurigen Lindwurms gewesen, einem Gasthaus mit Herberge gleich neben der Kirche, in dem vor allem Flößer und Pilger verkehrten und der Rena zu einigem Wohlstand verholfen haben. Ihr Ruf war nicht der beste. Mit Männerbekanntschaften war sie nicht wählerisch, ja eine Dirne sei sie gewesen, heißt es. Und sie habe sich auf unsentimentale Weise, nämlich mit Gift, ihrer vier Ehegatten entledigt.

Bei den Stadtführungen wird Rena alias Gabriele Rüth wieder lebendig, dann hält sie einen Monolog, in dem sich die unselige Beziehung der Wirtin zum grausamen, korrupten Richter Ganter, ihre unlauteren Geschäftsmethoden und das Komplott gegen den Pilger Nantwein widerspiegeln, der nichts ahnend in ihrem Gasthaus abgestiegen war. "Hoit, übernacht'n woit a bei mir, der Mo. Und des war sei Schicksal. I hob foisch ausgsagt vor Gericht, er hätt' mit am Kind Unzucht triebn. Verurteilt hotn da Richter Ganter, des war mei Liebhaber und mei Komplize bei so manch krummem Geschäft."

So richtig Angst haben die Wolfratshauser vor ihrem Marktgschlerf nicht mehr, man nimmt es von der heiteren Seite. Als meterhohe, sperrige Puppe in bunten Kleidern wurde sie in den 1990-iger Jahren bei Faschingsumzügen in der Marktstraße mitgeführt. Damit sollte gezeigt werden, dass die Spukgestalt über die Fähigkeit verfügte, sich plötzlich groß zu machen, weil sie ja in die Fenster der oberen Stockwerke hineinschauen musste. Vielleicht, weil es in Wolfratshausen schon lange keinen Faschingszug mehr gibt, ist sie dann etwas in Vergessenheit geraten. Eine Puppe lagert noch im Heimatmuseum, irgendwo auf dem Dachboden, wie Museumsleiter Martin Melf sich zu erinnern glaubt. Was die verschiedenen Sagenversionen betrifft, mag sich der versierte Heimatkundler lieber nicht so genau festlegen. "Einer erzählt es so, der andere anders." Eines zumindest meint er zu wissen: "Ein guter Mensch war die Rena bestimmt nicht."

© SZ vom 05.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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