SZ-Adventskalender:Leben mit Tabletten

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Gertrud W. leidet seit Jahrzehnten unter Angststörungen und Depressionen.

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Die Probleme von Gertrud W. (Name geändert) haben schon vor weit mehr als drei Jahrzehnten begonnen. Für die Pflege ihrer Mutter war es für die damals 40-Jährige nötig, dass sie bis nach Norddeutschland pendelte. "Meine Mutter litt unter starken Depressionen", erzählt Gertrud W. Und als dann noch Nierenkrebs diagnostiziert wurde, sollten die Therapien und Schmerzmittel nicht mehr recht greifen. "Die Angst in ihren Augen werde ich nicht mehr vergessen, und auch nicht, wie sehr sie tagaus, tagein geweint hat", sagt Gertrud W, die heute älter als 70 ist. Die Pflege war enorm belastend - und der erste große Einschnitt, der ihr Leben in eine Abwärtsspirale brachte.

Nachdem ihre Mutter gestorben war, lebte ihr Vater nur noch sechs Monate weiter. Was auf diesen Schock folgte, waren heftige Erbstreitereien zwischen den Geschwistern, die bis heute nicht bereinigt sind. "All der Stress hat bei mir eine Angststörung ausgelöst", sagt Gertrud W. heute. Bemerkt habe sie zunächst nur eine dauerhafte innere Unruhe, bis sich auch Panikattacken häuften. Sie wechselt ein paar Mal die Arbeit, von der Bankberaterin zur Buchhändlerin, und hoffte so auf einen Neuanfang. Doch die Angststörung blieb und wuchs sich zu einem massiven Problem aus. "Ich kann meinen Stuhl nicht kontrollieren, leide unter extremer Diarrhoe", sagt W. Das mache es ihr fast unmöglich, noch aus dem Haus zu gehen. "Eine Busfahrt etwa ist für mich eine schreckliche Vorstellung, weil ich nie weiß, wann ich flitzen muss - und ob ich es überhaupt noch rechtzeitig schaffe, eine Toilette zu finden."

Ein Teufelskreis, denn je mehr sie sich davor fürchtet, unter Menschen zu gehen, desto mehr Oberhand gewinnt ihre Angststörung. Ärzte diagnostizieren zudem Depressionen, und so muss Gertrud W. Psychopharmaka nehmen. Mit Anfang 50 war klar, dass sie nicht mehr arbeiten kann. Doch die Frührente ist mager und ermöglicht ihr keine Sprünge: Nur etwa 300 Euro bleiben ihr nach Abzug der Miete.

Die gesundheitlichen Probleme wurden in all den Jahren nicht weniger, sondern mehr. Gertrud W. leidet heute auch noch unter dem sogenannten Restless-Legs-Syndrom und einer äußerst schmerzhaften, chronischen Gürtelrose. Auch die jahrzehntelange Einnahme von Psychopharmaka und anderen Medikamenten und haben ihre Spuren hinterlassen. "Jeden Tag händevoll Tabletten schlucken, das bin ich leid", sagt sie. "Mein größter Wunsch wäre, dass ich irgendwann gesund werde, dass ich irgendwann nicht mehr all diese Medikamente schlucken müsste." Doch sie weiß zugleich: "Leider wird das nicht passieren." Denn ihre Ärzte hätten ihr klar gesagt, dass sie ihr Leben lang auf die Tabletten angewiesen sein werde. Also versucht sie, in anderer Hinsicht ihr Leben irgendwie in den Griff zu kriegen. Vor allem, ihre Gürtelrose und die Darmprobleme in Schach zu halten. "Am besten geht das noch über die Ernährung. Ich suche ständig nach geeigneten Kochrezepten, studiere den Ernährungsmarkt, und seit vier Jahren versuche ich, nach einer speziellen Diät zu leben, die mir guttut", erzählt sie. Dazu zählen Kurkuma, Vitamin B 12 und vor allem frische Zutaten. "Aber genau die sind teuer, und wenn man jeden Cent umdrehen muss, ist das fast tagesfüllend, zu schauen, wo und wie man sich ernähren kann."

Große Sprünge sind mit einem Budget von 300 Euro nicht drin - vor allem, wenn auch noch größere Anschaffungen anstehen. "Man wartet dann eben so lange, bis es wirklich nicht mehr geht." So wie bei ihrem Bett aus den 1970er-Jahren, das komplett durchgelegen ist. Auf einen Schrank verzichtet sie seit Jahrzehnten und stapelt ihre Kleidung einfach im Zimmer. Sparen muss Gertrud W. auch bei kleinen Reparaturen im Haushalt - und oft genug bei verträglichem Essen.

© SZ vom 24.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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