SZ-Adventskalender:Einmal auf einem Pferd sitzen

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Hippotherapie für ein Kind mit Cerebralparese

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Ihre Augen treffen immer wieder den Blick des Besuchers, ganz so, als wollte sie Kontakt aufnehmen, etwas fragen, Neugierde zeigen. Doch der Moment dauert nie lange, schon fällt der Kopf von Annamirl B. (Name geändert) wieder ruckartig nach vorne über. Ihre Mutter muss das Köpfchen schnell wieder aufrichten, damit das Kind atmen und schlucken kann. Annamirl B. ist schwerstbehindert, kann weder alleine stehen noch sitzen, vor allem aber kann sie ihren Kopf nicht alleine halten, was lebensgefährlich werden könnte. Wenn sie denn nicht 24 Stunden am Tag betreut und beobachtet würde.

Ein Knochenjob, dem sich ihre Mutter ganz und gar verschrieben hat. So trägt sie das Kind meist oder hält es in den Armen, um ihr alle paar Minuten den Kopf zu richten, ihr liebevoll übers Haar zu streichen, sie zu herzen und auf ihre Bedürfnisse zu achten. Auf dem Rücken trägt die Mutter eine Tasche, aus der ein Schlauch bis zum Kind führt - eine Ernährungssonde. Lediglich tagsüber hilft eine speziell ausgebildete Pflegeschwester und betreut Annamirl, damit die Mutter wenigstens ein paar Stunden den Haushalt machen, Einkäufe und sonstige notwendige Arbeiten erledigen kann. "Annamirl muss stets unter Beobachtung sein, weil sonst ganz schnell eine dramatische Situation entstehen kann", sagt die Mutter. "Ich kann nicht einmal schnell den Wäschekorb wegtragen, denn in der Zeit könnte schon etwas passiert sein."

Bereits die Geburt sei "lebensgefährlich" gewesen, erzählt sie. Das Kind litt unter Sauerstoffmangel, der ihr Hirn schädigte, im Fachjargon Cerebralparese genannt. Bis heute ist nicht klar, ob der Sauerstoffmangel während der Schwangerschaft oder während der Geburt auftrat. Doch gleich nach der Geburt musste Annamirl mehrfach wiederbelebt werden, und lange war nicht klar, wie sehr das Kind tatsächlich behindert ist. "Bis heute ist sie eine kleine Wundertüte", sagt die Mutter und lächelt ein wenig. Die Bewegungsmöglichkeiten von Annamirl sind bislang stark eingeschränkt. Insbesondere die Hals- und Nackenmuskulatur ist derart unterentwickelt, dass sie bis heute, mehr als vier Jahre später, den Kopf nicht selbständig halten kann. "Aber wir haben den Eindruck, dass sie kognitiv doch fit ist. Sie versucht, Kontakt aufzunehmen, aber der Körper folgt ihr einfach nicht." Zudem leidet die Kleine unter Schluckbeschwerden und Epilepsie. Vor allem durch Letzteres setze bei ihr immer wieder die Atmung aus, was zu den lebensbedrohlichen Situationen führe. Nachts müsse sie deshalb mehrfach umgelagert werden. "Mehr als zwei, drei Stunden Schlaf am Stück ist dann schon eine gute Nacht", erzählt die Mutter.

Mit keinem einzigen Ton hört man ein Jammern der Mutter heraus. Dass sie die Kleine über alles liebt, ist in jeder Bewegung, in jedem Blick klar. Wie viele Monate oder Jahre sie mit Annamirl haben wird, kann keiner sagen. Auch nicht, wie sich ihre Entwicklung fortsetzen wird, ob sie jemals ihren Kopf halten oder selbständig wird sitzen können. Klar aber ist, dass Annamirl leben will - und Freude an so manchem hat. Ihre Augen leuchten, wenn sie die bunten Kugeln am Weihnachtsbaum sieht. Fast scheint es, sie lächelt, wenn die Mutter ihr übers Haar streicht. Und sie wird ganz ruhig, wenn die Mutter mit ihren Fingern über eine kleine Klangharfe streicht. "Musik und Tiere liebt sie sehr." Der Besuch auf dem Bauernhof, der lasse sie stets aufblühen. Auch die Wärme der Tiere beim Streicheln wecke bei Annamirl ungeahnte Kräfte. Und so wäre der größte Traum der Mutter, wenn Annamirl einmal mit ihr zusammen auf dem Rücken eines Therapiepferdes sitzen könnte. "Nicht nur würde es die Rücken- und Beckenmuskulatur kräftigen, auch die Halsmuskulatur, sodass sie vielleicht ihren Kopf etwas besser halten könnte", hofft die Mutter. Und das wäre für alle der größte Fortschritt und die größte Erleichterung und zugleich.

© SZ vom 03.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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