SZ-Adventskalender:Das Leben in den Griff bekommen

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Trotz Arbeit reicht das Einkommen oft nicht mal für das Nötigste. Doch viele Betroffene wollen die Hoffnung nicht aufgeben, wieder in der Gesellschaft anzukommen.

Von Ingrid Hügenell und Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Wer arbeitet, aber ein zu geringes Einkommen hat, um seine Familie ausreichend zu versorgen, erhält ergänzende Leistungen über Hartz IV. Das betrifft mehr Menschen, als man denkt. Viele halten es geheim, dass sie trotz Arbeit zu wenig Geld zum Leben haben. Auch Familie P. (alle Namen geändert) möchte auf keinen Fall, dass jemand von ihrer Misere erfährt, zumal sie die feste Hoffnung haben, dass es wieder aufwärts geht. Zwar arbeitet die Mutter einige Tage pro Woche, doch das Einkommen ist für die fünfköpfige Familie zu gering, seit der Vater seine Arbeit verloren hat und keine neue findet - er ist Ende 50. Frau P. versucht alles, damit ihre Kinder angemessen angezogen und ausgestattet sind. Vom Weihnachtsgeld hat sie für die drei Winterschuhe gekauft, doch das ohnehin nicht üppige Zusatzeinkommen wird ihr im Januar von ihren Hartz-IV-Bezügen wieder abgezogen. "Das hat man sich verdient, aber im Endeffekt hat man nichts davon", seufzt sie. Zu Weihnachten wünscht sie sich, einmal wieder mit der ganzen Familie etwas unternehmen zu können, vielleicht einen Besuch im Schwimmbad oder im Kino. Nach langem Nachdenken hat sie auch für sich selbst einen Wunsch: Einen neuen Mantel und vielleicht einen Friseurbesuch. Das wäre schön für sie, denn seit Jahren schneide sie sich die Haare selbst. "Es ist wichtig, dass man nicht den Mut verliert", sagt Frau P. "Vielen geht es schließlich noch schlimmer, und viele ziehen sich zurück, weil ihnen ihre Situation peinlich ist."

Im Leben von Roland W. hat sich einiges zum Besseren gefügt. Als großes Glück empfindet er es, dass er seine heutige Ehefrau traf, und dass ein "freudiges Überraschungspaket"folgte: Sein Sohn, der vor acht Jahren zur Welt kam, womit der Mitte Sechzigjährige nicht mehr gerechnet hatte. Bis dahin war sein Leben alles andere als leicht, und die Aussichten waren auch nicht rosig. Der gelernte Maschinenschlosser erkrankte mit 21 Jahren an heftigen Magenschmerzen. Die Ärzte rätselten über die Ursache und verschrieben Schmerzmittel, die rasch keine Wirkung mehr zeigten. Eine medizinische Odyssee begann, die Roland W. immer wieder zu krankheitsbedingten Arbeitspausen zwang. "Irgendwann habe ich die Tabletten wie Bonbons geschluckt, aber nichts half mehr. Ich war so verzweifelt, dass ich daran dachte, mir einen Strick zu nehmen", erzählt er. Erst Mitte der 1990er Jahre, als sich den Ärzten mit MRT und CT neue Möglichkeiten der Diagnostik eröffneten, konnte endlich die Ursache geklärt werden: Roland W. leidet an wiederkehrenden Zwölffingerdarm-Geschwüren. "Aber da war mein Leben schon versaut", sagt er. Denn durch die Fehlzeiten im Beruf und die krankheitsbedingte Frührente erhält Roland W. nur eine äußerst geringe Rente. Jahrelang lebte er alleine in einem kleinen Zimmer in einem abgelegenen, maroden Bauernhof und teilte sich die Gemeinschaftstoilette mit alkoholkranken Mitbewohnern.

Doch dann trifft Roland W. eine Frau und verliebt sich. Anna W. leidet zwar unter Depressionen und hat Schulden, weil sie vor ihrem Zusammentreff mit Roland W. allzu gutgläubig die Verbindlichkeiten ihres damaligen Freundes übernommen hatte. Doch gemeinsam wollen die beiden es schaffen. Sie heiraten und erhoffen sich ein kleines bisschen Glück - trotz Insolvenz und magerem Einkommen. Als der Sohn geboren wird, kann die kleine Familie in eine etwas bessere, größere Sozialwohnung umziehen. Anna W. geht regelmäßig arbeiten, um das Familieneinkommen aufzubessern, die Privatinsolvenz ist im kommenden Jahr ausgestanden. Und aus dem Kleinen sei ein "pfiffiger Bub" geworden, erzählt Roland W: "Ein wirklich kluger Junge, der sehr aufgeweckt ist und ganz viel Leben in die Bude bringt." Gerne sei er in der Natur unterwegs, vor allem, seit er von Freunden mit zu den Pfadfindern genommen wurde und nun ganz begeistert ist von den Erlebnissen in der Gemeinschaft und in der Natur. Die kleine Familie lebt bescheiden, aber zufrieden zusammen. Nur die finanzielle Situation ist eng, jeder Cent muss umgedreht werden. Auch wenn sich Anna W. sehr bemüht, die Familie mit ihrem Einkommen zu unterstützen, müssen sie aufstocken, um die Fixkosten zu tragen und über die Runden zu kommen. Sprünge sind nicht drin - nicht für gemeinsame Ausflüge, nicht einmal für die Buskosten, um den Jungen zu seinen geliebten Pfadfindertreffen zu bringen. Die Möbel aus dem Sozialkaufhaus zeigen schwere Verschleißerscheinungen, das Sofa reißt an den Nähten auf, die Sitzflächen sind abgewetzt. Jüngst ist der Kleiderschrank der Familie zusammengebrochen, die Wäsche stapelt sich seither am Boden. Für den Buben ein Grund, keine Freunde mehr einzuladen. "Es wäre unser größter Wunsch, einen neuen Schrank zu bekommen", sagt Roland W., "Denn das wäre für uns ein Stück Stabilität und ein Schritt, uns einfach normal und wieder angekommen zu fühlen in der Gesellschaft."

Hannah Schmidt musste erst lernen, dass Milchschnitte kein normales Abendessen ist. Schon als sie elf Jahre alt war, ließ ihre Mutter das kleine Mädchen oft alleine in der Wohnung, kam nur unregelmäßig nach Hause. "Da war ich auf mich allein gestellt", sagt die junge Frau. Und zum Abendessen gab es eben Milchschnitte oder Fertiggerichte. Inzwischen ist Hannah Mitte 20 und verheiratet mit Sophia, die ein wenig älter ist. Sophias Vater war Alkoholiker, die Mutter wenig vorhanden. Sie konnte Sophia und ihrer jüngeren Schwester kein stabiles Umfeld bieten. "Man hat dann keinen Gegenpart und lernt nicht, wie man mit seinen Gefühlen umgehen soll", sagt sie. Beide haben aus der Kindheit ohne verlässliche Zuwendung und Vernachlässigung eine Persönlichkeitsstörung davongetragen. Die Diagnose: Borderline. Darüber wissen sie gut Bescheid, sie sind schon lange in Behandlung, und nach neueren Erkenntnissen ist ihre Prognose recht gut. Noch aber leben Hannah und Sophia in einer kleinen Mansarde. Das Bett füllt das winzige Zimmer fast aus, einen Tisch oder Stühle gibt es nicht, auch keine Küche, nur ein Waschbecken und einen kleinen Kocher. Daneben ein kleines Bad. Sie sind stolz darauf, die Wohnung selbst gefunden zu haben.

Die Borderline-Erkrankung wirkt sich auf das gesamte Leben aus: Es fällt ihnen schwer, das Geld richtig einzuteilen oder Formulare auszufüllen, und obwohl sie Tests zufolge überdurchschnittlich intelligent sind, schaffen sie es noch nicht, dauerhaft in einem regulären Arbeitsverhältnis zu bestehen. "Vom Kopf her kann ich arbeiten", sagt Hannah, "aber das Durchhaltevermögen fehlt noch." Noch. Denn Hannah lernt in einer Reha-Einrichtung, wie man einen Acht-Stunden-Tag durchsteht. Die Einrichtung hat auch Sophia durchlaufen. Durch Praktika können sie Aufgaben finden, die zu ihnen passen. Sophia hat seit kurzer Zeit Arbeit an der Rezeption einer Klinik, eine unterstützte Beschäftigung, die in eine Festanstellung münden könnte, worauf sie sehr hofft. Nichts wünschen sich die beiden mehr, als selbst Verantwortung für ihr Leben übernehmen zu können. Dass es Menschen gibt, die sie unterstützen, hat ihnen viel Selbstbewusstsein gegeben. "Jeder braucht doch jemanden, der an einen glaubt", sagen sie. Das geringe Einkommen aber lässt kaum Spielraum für nötige Anschaffungen. Beide brauchen Winterstiefel, außerdem eine neue Pfanne und einen Topf. Denn Milchschnitte gibt es schon lange nicht mehr zum Abendessen.

© SZ vom 17.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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