Sternheim-Villa:Von Dichterresidenzen und jüdischen Schicksalen

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Die beiden neuen Bände der Pullacher Schriftenreihe behandeln zwei unterschiedliche, aufwühlende Kapitel der Ortsgeschichte

Von Udo Watter, Pullach

Der Dramatiker Carl Sternheim ist nicht zuletzt bekannt für sein skandalumwittertes Lustspiel "Die Hose". Mit beißendem Spott entlarvt er in der 1911 uraufgeführten Komödie die Doppelmoral der wilhelminischen bürgerlichen Gesellschaft und zeigt, dass hinter der Maske von Sittlichkeit lüsterner Trieb und Gier stecken. Schon der Titel - der daher rührt, dass eine in aller Öffentlichkeit nach unten gerutschte Damenhose erotische und finanzielle Begierden auslöst - war in der prüden Kaiserzeit ein Skandalon. Damals wohnte Sternheim mit seiner Frau Thea in Pullach. Die 1907/08 für ihn am Höllriegelskreuther Isarhochufer errichtete Villa Bellemaison gehört zu den bedeutendsten Denkmälern auf dem Gemeindegebiet. 1912 verließ er den palastartigen Bau im Stile von Louis XVI. und zog in einen Vorort von Brüssel - weil die Sternheims Carls in finanzielle Not geratenem Vater aushalfen und sich das große Haus nicht mehr leisten konnten und wohl auch, weil in Höllriegelskreuth Industriebetriebe entstanden, deren Ansiedlung der Schriftsteller vergeblich zu verhindern suchte. "Da gab es heftige Auseinandersetzungen", sagt Erwin Deprosse vom Gemeindearchiv.

In der weiteren Historie des Gebäudes spiegelt sich die politische und kulturelle Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. So darf man gespannt sein, wenn nun im Rahmen der Pullacher Schriftenreihe der Band VII "Bellemaison - eine Dichterresidenz im Zeitalter der Extreme", herausgeben wird. Gegen Ende des Kaiserreichs war die Villa Treffpunkt von Künstlern und Literaten, nach der Novemberrevolution wurde sie von einem entthronten Fürsten erworben. Während des Zweiten Weltkriegs zog eine dem NS-Regime eng verbundene homöopathische Klinik ein. Von der Bombardierung der benachbarten Industrieanlagen verschont und vor späteren Abrissplänen bewahrt, dient Bellemaison heute als Firmensitz.

Autor des Buches ist der in Pullach aufgewachsene Michael Davidis. 1947 geboren, war er Wissenschaftlicher Angestellter am Deutschen Museum und, von 1988 bis 2012, am Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo der Nachlass Carl Sternheims und die Tagebücher seiner Frau Thea aufbewahrt werden. Seine Abhandlung erscheint voraussichtlich im Herbst als Band VII der Pullacher Schriftenreihe und umfasst rund 50 Seiten mit circa 25 Abbildungen; der Autor verlangt kein Honorar für das Manuskript. Der Erwerb wird in Buchhandlungen und über die Gemeinde zum Preis von 13 Euro möglich sein. Dass die Kommune die Herausgabe unterstützt, ist wohl begründet: "Das Werk behandelt die Geschichte eines der bekanntesten Pullacher Gebäude, das jedoch als Wohnhaus berühmter Persönlichkeiten und als Spiegel und Bühne seiner Zeit zumindest nationale Bedeutung hat." Der Gemeinderat hat die Publikation von Band VII und auch Band VIII bewilligt, die voraussichtlichen Kosten belaufen sich auf gut 40 000 Euro.

Die Pullacher Schriftenreihe wurde 2003 mit der Neuauflage zweier vergriffener Chroniken (A. Atzenbeck, Ortsgeschichte der Gemeinde Pullach im Isartal, 1955; H. Drube, Pullach im Isartal. Unsere Heimat in Vergangenheit und Gegenwart, 1982) unter der Maßgabe begründet, in kommenden Jahren durch weitere Werke der Ortsgeschichte fortgeführt zu werden. Diese Vorgabe gilt auch in besonderem Maße für den geplanten Band VIII: "Gedenkbuch der jüdischen Bürgerinnen und Bürger Pullachs". Er fügt sich in die Konzeption ein und steht zudem in einem Zusammenhang mit zwei weiteren Werken, die schon geplant sind und ebenfalls das Schicksal Pullacher Kriegs- und NS-Opfer beleuchten: Gedenkbuch der in Pullach Zwangsarbeitsverpflichteten (voraussichtlich Band IX der Pullacher Schriftenreihe) sowie Gedenkbuch der deutschen Kriegsopfer: Gefallene, Vermisste, Opfer des Bombenkrieges (voraussichtlich Band X).

Die Verfasserin von Band VIII der Schriftenreihe ist die Historikerin Susanne Meinl, die mit Bodo Hechelhammer auch das Buch "Geheimobjekt Pullach. Von der NS-Mustersiedlung zur Zentrale des BND" verfasst hat. Sie befasst sich vor allem mit den jüdischen (respektive den nach Nazi-Diktion halb- und vierteljüdischen) Bürgern Pullachs in der Zeit von 1933 bis 1945. Die Veröffentlichung ist auf Frühjahr 2018 terminiert mit einem geplanten Umfang von 172 Seiten, mit Fotos und Faksimiles. Ein Schwerpunkt wird neben der Einführung in die Geschichte der Judenverfolgung im Großraum München die besondere Situation in Pullach (Reichssiedlung Rudolf Heß/Hilfeleistungen durch die Firma Linde und Bürgermeister Hans Keis) sein. "Linde hat etwa seine jüdischen Mitarbeiter an eine Konkurrenzfirma in Paris vermittelt", erzählt Deprosse.

Zudem werden Exilschicksale, Deportationen oder Vermögenstransaktionen thematisiert. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erstellung von Einzelbiografien jüdischer Bürger, die einen Bezug zu Pullach hatten. Auch Sternheim hatte im Übrigen jüdische Wurzeln. "Er ist 1942 verarmt in Brüssel gestorben", so Deprosse.

© SZ vom 18.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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