Konzert-Wochenende:Frühlingsgefühle bei Schneeregen

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Das Prager "Trio Incendio" lässt gleich zum Auftakt die Funken sprühen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Junge, hochmusikalische Ensembles gestalten beim neunten "Ickinger Frühling" intensive Programme. Auch die Pausen werden zum Erlebnis. Bilanz eines außergewöhnlichen Kammermusik-Festes.

Von Paul Schäufele, Icking

Kaum die Treppen nach oben gestiegen, grüßt Ludwig van Beethoven, Bohuslav Martinů schenkt ein Lächeln. Die Konterfeis der Komponisten-Genies zieren in Form kleiner Medaillons Blumenvasen im Rainer-Maria-Rilke-Gymnasium in Icking. Normalerweise sind auf den Schulfluren diese Porträts nicht zu finden. Doch dieses Wochenende ist "Ickinger Frühling" - ein Zimmer-Frühling. Draußen verpasse man eh nichts, wie Bettina Gaebel, Vorsitzende des Vereins Klangwelt Klassik, mit Blick aufs Wetter sagt. Und eine Handvoll von Kammermusik-Ensembles macht sich auf, um Musik in kleiner Besetzung zu feiern.

Das Prager Trio Incendio macht den Auftakt mit Andrzej Panufniks Opus 1: ein neoklassisch beeinflusstes, nicht unattraktives Stück, das im Vergleich zum folgenden aber blass wirkt. Denn in Martinůs drittem Trio kann das Trio Incendio Funken sprühen lassen. Aus dem wabernden Beginn schießt Licht in Form brillanter Melodien. Zwar lässt die Geigenstimme stellenweise an Intonationssicherheit vermissen, doch das Trio ist so gut aufeinander abgestimmt, dass das angesichts des Zusammenklangs unwichtig ist. Nach dem minzfrisch aufgespielten Martinů ist das Prager Trio mit dem g-Moll-Trio, das Antonín Dvořák der Gattung geschenkt hat, ganz bei sich. Sensible, glitzernde Klavierfiguren im Kopfsatz, fein phrasierte Streicherkantilenen im zweiten, Musikanten-Spaß im Scherzo und tänzerischer Schwung im Finale. Für den engagierten Beifall bedankt man sich mit einem Blues des zeitgenössischen tschechischen Komponisten Luboš Sluka.

Bettina Gaebel, Vorsitzende des Vereins "Klangwelt Klassik". (Foto: Hartmut Pöstges)
In den Pausen wird angeregt diskutiert. (Foto: Hartmut Pöstges)

Ob der Panufnik wirklich ein interessantes Stück sei? Das wird diskutiert. Denn der "Frühling", wie Stammgäste das Festival nennen, besteht aus zwei Teilen. Der eine ist die Musik. Der andere der Austausch darüber in den Schulräumen. Bei Karottenkuchen oder Linzer Torte lässt sich plaudern, lässt sich schwelgen über vergangene Konzerte, Vorfreude teilen über die, die noch kommen und Dankbarkeit ausdrücken für die Möglichkeit, etwa als Rentnerin, die eine Münchner Miete zu stemmen hat, in Icking günstig ins Konzert gehen zu können. Die Backwaren stärken, der Kaffee aktiviert, was Zahlreiche dazu bewegt, sich auch den instruktiv-unterhaltsamen Einführungsvortrag von Wolf-Dieter Seiffert anzuhören, der auf den Schock vorbereitet, von der Romantik in die Avantgarde geschmissen zu werden.

Als das Aris Quartett die Bühne betritt, regen sich einige im Publikum in freudiger Spannung. Zum vierten Mal ist das hochbegabte Quartett in Icking. Mendelssohns frühes Es-Dur-Quartett präsentieren die vier mit der Geistesgegenwart, für die sie geliebt werden. Dass das Quartett im Stehen spielt, ergänzt den Eindruck: Die musikalische Dynamik, die hier entfesselt wird, braucht physische Beweglichkeit. Im Finale inszeniert das Aris Quartett den Schein-Schluss auf g-Moll so überzeugend, dass sich das einschleichende f-Moll-Thema als gespenstische Wiederkehr ausnimmt. Das ist nicht nur gut gespielt, sondern auch gut geschauspielt.

Auf engstem Raum bietet Ligetis erstes Quartett den Aris-Leuten Gelegenheit, diese intensive Kunst auszuleben. Rhythmische Prägnanz, expressiv lamentierende Figuren, Flächen, denen das Quartett debussyhaften Schimmer verleiht. Diese vier treffen ins Schwarze, bei Ligeti wie beim fünfzehnten Beethoven-Quartett. Dessen Aufführung verzögert sich noch eine Minute. Das Trio Sōra kommt aus Paris mit dem Zug - leicht verspätet - möchte es aber auch gerne hören. Man wartet mit der Solidarität der Kammermusik-Liebhabenden und dem Mitleid der Bahnreise-Gepeinigten. Es folgt eine bewegende Aufführung, in dem veritable Bauerntänze mit einem eindringlichen "Heiligen Dankgesang", agile Marschmusik mit einem wirbelnden Finale wechseln. Fanny Hensels langsamer erster Satz ihres Es-Dur-Quartetts als klangschöne Zugabe.

Das "Aris Quartett" musiziert im Stehen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Das französische Trio lässt sich davon anspornen. Am folgenden Vormittag musiziert es zupackend Haydns G-Dur-Trio, wobei nach dem innigen Mittelsatz im Finale die ungarisierenden Akzente kess blitzen. In Mauricio Kagels 2001 entstandenem zweiten Klaviertrio schürfen die jungen Spielerinnen aus bedrohlichen Klangmassen klare Konturen, schaffen damit eine bezwingende Atmosphäre, die zwischen unruhigem Witz und lastender Beklommenheit schwankt. Und Brahms' Opus 40 geben sie eine Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Ausnahme: Der Mesto-Satz, den das Trio so düster verhangen interpretiert, dass vor dem vital akzentuierten Finale eine Sekunde der Sammlung eingeschoben werden muss. Bei der Zugabe, einem halbironischen "Guten Abend, gut' Nacht", singt dann zwar niemand mit, aber einige blicken schmunzelnd zur Uhr, die 12.45 Uhr zeigt.

Das bedeutet Mittagessen und darüber hinaus Zeit für das bereits traditionelle Intermezzo "Junge Klassik", in dem Musizierende am Anfang ihrer Karriere ein Podium geboten wird - in diesem Fall der Pianistin Kaori Kashimoto und der Geigerin Mai Suzuki. Das Duo bringt in einem kompakten Programm charmante Kreisler-Piecen und Sonatensätze, so das brillant gegeigte Finale aus Camille Saint-Saëns' Opus 75.

Wilde Stampftänze, schwebende Walzer

Aus dem Nebenzimmer tönen schon die Quinten, als Bettina Gaebel sich von der zusammengewachsenen Gemeinschaft verabschiedet: "Uns gibt es auch unterjährig", merkt sie noch an, mit Verweis auf das Programm des Vereins "Klangwelt Klassik". Sie sagt es in einen gut besetzten Saal. Das Goldmund Quartett ist ein Publikumsliebling. Die ersten Takte von Haydns Opus 76 Nummer 2 lassen noch stutzen, ob hier nicht allzu forsch gestrichen würde. Doch schnell ist klar: Das Quartett legt es nicht auf Effekte an, sondern auf einen durchgängig expressiven Ton, der sich im zweiten Satz genauso gut in Innigkeit verwandeln kann. Das Goldmund Quartett hat einen Blick für Schwerpunkte. Dazu kommt das Temperament seiner Spieler, das in Kombination mit Schostakowitschs siebtem Streichquartett eine explosive Mischung ergibt: wilde Stampftänze neben einem quasi körperlos schwebenden Walzer. Reine Klangkultur präsentieren die vier in Alexander Borodins zweitem Quartett, bringen Bewegung in die breit sich verströmenden Melodien, zeigen agile Tempo-Behandlung im finalen Kehraus. Einen zweiten gibt es im "Samerberger Marsch", bei dem sich das Publikum noch einmal die Hände warm klatschen darf.

Das tröstet ein wenig. Die Melodien klingen noch nach in denjenigen, die sich nach einem rundum geglückten Ickinger Frühling aufmachen in die feuchte Kälte, vorbei an Komponisten-Porträts, Abschied nehmend von neuen und alten Bekanntschaften. Vorläufig, denn mit der Verlässlichkeit der Tagundnachtgleiche wird es auch im nächsten Jahr wieder Frühling in Icking, hochmusikalisch und inspirierend.

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