Geretsried:Frischzellenkur für ein absterbendes Stadtquartier

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Gras zwischen dem Pflaster, schiefe Holzblöcke als Sitzgelegenheiten: Der Johannisplatz Geretsried braucht eine Generalüberholung - und die Bürger sollen helfen. Nur viele wollen nicht so recht.

Bernhard Lohr

Alfredo Tarantino ist kein Freund von Veränderungen. Und Aufregung kann er schon gar nicht brauchen. Der Wirt von "Freddy's Café" am Johannisplatz blickt müde über seinen Tresen. Zwischen den Fingern des 74-Jährigen qualmt die Zigarette. Er hat von den Bestrebungen gehört, den Johannisplatz und das Viertel drumherum umzugestalten.

Die Geretsrieder Bürger sollen eigene Ideen einbringen, wie die aus ihrer Sicht die längst fällige Umgestaltung des Johannisplatzes ablaufen soll. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Mir ist das wurscht", sagt er. Dem gebürtigen Italiener scheint das mindestens so egal zu sein, wie das sich abzeichnende Aus der Squadra azzurra bei der Fußball-WM in Südafrika. Hinter ihm läuft am Donnerstagnachmitag der Fernseher mit dem Spiel gegen die Slowakei. Es steht sensationell 0:1. "Ich bin seit 61 Jahren in Deutschland", sagt Tarantino und winkt ab.

Seit gut einem Jahr ist klar, dass der Johannisplatz über das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" eine Frischzellenkur erhalten soll. Das Programm zielt darauf ab, Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf zu fördern, um so eine Abwärtsspirale in benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten. Dabei sollen die Bürger einbezogen werden.

Im Juli vor einem Jahr kamen rund 50 Interessierte zu einer ersten Bürgerversammlung ins Pfarrheim Heilige Familie. Es gab viele Ideen. Die Steinwüste solle aufgebrochen werden, es solle mehr Grün geben und Bänke, auf denen die Alten sich niederlassen können. Für bolzende Jugendliche sollte ein anderer Ort gefunden werden. Wochen später folgte ein Streit über Pläne für ein Kinderhaus samt dazugehöriger Freifläche.

Seit diesem Mittwoch ist erstmals sichtbar, dass das Projekt anläuft. Für Quartiersmanager Christian Lotz, der die Bürgerwünsche aufnehmen soll, wurde keine 30 Meter von "Freddy's Café" ein Bürocontainer aufgestellt. Von kommender Woche an will Lotz Sprechstunden anbieten. Er denkt anfangs an zwei mal zwei Stunden in der Woche und sagt, das ganze Projekt "hat nicht nur mit dem Platz zu tun". Es gehe um mehr als um bauliche Veränderungen. Wer merke, dass er etwas verändern könne, der sammle "Erfahrungen für sein Leben". Die Leute sollten lernen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.

"Es gehört irgendwas her"

Für Freddy war es schicksalhaft, dass es ihn von Italien an den Johannisplatz verschlagen hat. Vor 31 Jahren eröffnete er dort sein Lokal als "Café 2000", fünf Jahre später benannte er es um. Seitdem scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Ein einziger Stammgast ist am Donnerstag da. Rudolf Holzinger trinkt sein Weißbier aus einem Glas, auf dem verblasst die Mannschaft des FC Bayern samt Gerd Müller zu sehen ist, die 1967 den Europapokal der Pokalsieger gewann.

Heinziger wohnt nicht weit vom Platz und bolzte vor 20 Jahren als Kind leidenschaftlich nach der Schule zwischen den Hochhäusern. "Pflege könnte die Anlage hier aber schon gebrauchen", sagt er und hebt den Blick. Freilich dröhne das Gekicke zwischen den Hochhäusern. Das könne schon nerven. Dann müsse man halt was anderes für die jungen Leute finden. "Es gehört irgendwas her", sagt er, "ein kleines Feld, wo ein Tor steht und drüber ein Basketballkorb." Wenn die Kinder beschäftigt seien, passiere weniger. "Dann wird nichts kaputt gemacht."

In den Jahren 1968 bis 1973 hat die Baugenossenschaft Geretsried gemeinsam mit der Isarwald GmbH das Viertel hochgezogen. Als eine Art "Stadt in der Stadt", wie es in der offiziellen Chronik heißt, entstanden 295 Sozialwohnungen, 238 Eigentumswohnungen und acht Ladeneinheiten.

Seitdem sind nicht nur die Bäume in die Höhe gewachsen. An vielen Stellen wächst Gras zwischen dem Pflaster hoch, massive Holzblöcke ragen windschief aus dem Boden, die offenbar als Sitzgelegenheit gedacht waren, und auf Beton montierte Holzlatten sind längst morsch und laden keinen mehr ein, sich niederzulassen. Der Eindruck ist, dass lange nichts instandgesetzt wurde.

Volker Kneifel, seit elf Jahren Wirt im "Il Paladino", dem zweiten Lokal am Platz, ärgert das schon lange. "Hier ist noch nie was gemacht worden", schießt es aus ihm heraus. Und das Soziale-Stadt-Projekt wird aus seiner Sicht nichts ändern. "Ich erwarte mir gar nichts", sagt er. Auch im "Il Paladino" läuft Fußball. Hans Witthuhn sitzt da und andere aus der Nachbarschaft. Es wäre gut, wenn es mal einen Wochenmarkt geben würde, sagt jemand. "Ein schöner Biergarten wäre es", sagt Witthuhn.

"Wenn Leute entscheiden, die da nicht wohnen"

Und Kneifel beklagt, der Johannisplatz, der einst als Fußgängerzone angelegt wurde, sei von Anfang an "verkorkst". Man habe dort "nie was mit Hand und Fuß gemacht". Ein paar Geschäfte dümpelten vor sich hin, weil Zufahrt und Parkplätze fehlten. "Das ist das Blöde, wenn Leute entscheiden, die nicht da wohnen."

Genau das soll jetzt anders laufen. Ein erster Workshop des Soziale-Stadt-Projekts startet am Montag, 5. Juli, 19 Uhr, im Pfarrzentrum. Architekt Eberhard von Angerer wird da sein und der Quartiersmanager Lotz. Der hofft, dass die Anwohner ein "eigenes Interesse entwickeln" an ihrem Umfeld.

Frauke Förschler steht am Eingang ihrer Apotheke und schaut auf den sonnenbeschienenen Spielplatz mitten auf dem Johannisplatz. Zwei Buben im Vorschulalter, der eine in Lahm- und der andere in Olic-Trikot, schießen sich einen Ball zu. Förschler ist seit 30 Jahren mit ihrer Apotheke am Ort. "Ich habe da wenig Fantasie", sagt sie, was die Umgestaltung angehe. Und dann sprudelt es doch aus ihr heraus. Die Spielplätze sollten auf jeden Fall bleiben. "Weil da Leben ist",sagt sie, "mir macht das Spaß."

Auch Alfredo Tarantino taut irgendwann hinter seinem Tresen auf. Richtig Wurscht ist es ihm nicht, was um ihn herum passiert. Als Margareta Tarantino neben ihm sagt - "Was wäre mit einem Supermarkt?" - blinzelt er kurz. "Es gibt viele alte Leute hier." Wer auch nur eine Kleinigkeit kaufen wolle, der sei aufs Auto angewiesen.

© (SZ vom 26.06.2010) - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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