Baustil der NS-Zeit:Heimatlichkeit vor dem Hintergrund der Kriegsvorbereitung

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Die Siedlungen Isarleiten und Föhrenwald beherbergten Angestellte und Arbeiter der Rüstungsproduktion im Wolfratshauser Forst

Von Kaija Voss, Wolfratshausen

Die Stadt Wolfratshausen, ihr Ortsteil Waldram und die Stadt Geretsried sind nicht nur durch die Bundesstraße 11 sowie eines Tages durch die S 7 verbunden, sondern vor allem durch die gemeinsame Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Bauliche Zeugnisse sehr unterschiedlicher Art finden sich dafür an allen drei Orten. Von 1936 bis 1938 entstand in Wolfratshausen die Siedlung "Isarleiten" für Angestellte der Sprengstoffwerke von Geretsried. Ein typisches Beispiel für die Architektur im Nationalsozialismus und ihre Ideologisierung.

Die Gestaltung des heute denkmalgeschützten Ensembles adaptiert regionale historische Bauformen des Voralpenlandes: Holzbalkone, asymmetrisch angebrachte Erker, flache Satteldächer, barockisierende Schnitzereien auf Fensterläden und Türen sowie angedeutetes Giebelbundwerk. Den in der Rüstungsindustrie tätigen Bewohnern wurde eine ländlich-kleinstädtische "Heimatlichkeit" suggeriert, vor dem Hintergrund von Kriegsvorbereitung und Sprengstoffproduktion. Innerhalb des Siedlungsbaus jener Zeit entspricht das Raumangebot der Werkswohnhäuser einem gehobenen Standard. Der Name Schießstättstraße musste bereits 1933 weichen, sie wurde in Dietrich-Eckart-Straße umbenannt. Der Publizist und Verleger Eckart war ein früher Nationalsozialist, Mitbegründer der NSDAP und Ideengeber für Adolf Hitler. In den 1930er Jahren wurden viele Denkmäler zu Ehren Eckarts errichtet sowie Straßen und sogar Schulen nach ihm benannt. Die Hammerschmiedschule in Wolfratshausen hieß damals Dietrich-Eckart-Volksschule.

Der Wolfratshauser Forst wurde 1936 durch den damaligen Nazi-Bürgermeister Heinrich Jost dem Wehrwirtschaftsministerium zum Bau von Rüstungsbetrieben empfohlen. Jost versprach sich davon einen Wirtschaftsaufschwung für Wolfratshausen. In Geretsried entstanden so 1940 zwei Rüstungswerke: die Verwertchemie, eine Tochter der Dynamit AG, in Gartenberg und die Deutsche Sprengchemie in Stein. Bauten der Rüstungsindustrie machen einen wesentlichen Teil der im Nationalsozialismus realisierten Gebäude aus. Ihre Spuren in Geretsried sind noch vorhanden, es werden aber immer weniger.

Im Verwaltungsgebäude der Dynamit AG befindet sich heute das Rathaus. Errichtet wurde der zweigeschossige Bau 1939/40 in barockisierenden Heimatstilformen mit flachem Satteldach und Eingangsturm durch den NS-Architekten Paul Wenz. Einst in grauer Tarnfarbe gestrichen, erhielt es nach seiner Umwidmung zum Rathaus einen Anstrich in Gelb und Weiß-Blau. Entlang der Graslitzer Straße entstanden vier große "Ingenieur-Wohnhäuser". Weiteres Führungspersonal der Deutschen Sprengchemie (DSC) wohnte entlang der Tattenkofer Straße.

Außergewöhnlich ist die Geschichte des Ortes Waldram: Von 1939 an als Mustersiedlung für Arbeiter der nahegelegenen Rüstungswerke in Geretsried erbaut und teilweise von bis zu 5000 Zwangsarbeitern bewohnt, dienten die Häuser nach dem Krieg, von 1945 bis 1956, als größtes Lager für jüdische "Displaced persons" in Deutschland. 1957 wurde Waldram durch das Katholische Siedlungswerk zum Wohnort für viele heimatvertriebene deutsche Familien. Die einstige Siedlung Föhrenwald, bestehend aus eingeschossigen Wohnhäusern mit Satteldach, ist in einer traditionellen, insgesamt sehr einheitlichen Architektursprache errichtet worden. Die in sich geschlossene Siedlung, die einst über ein Eingangstor betreten wurde, ist unter dem Begriff "Heimatschutzstil" zu klassifizieren. Neben der Anpassung an die Topografie sind als Stilmerkmale die an vielen Gebäuden sichtbaren Eckbetonungen durch geböschte Pfeiler zu nennen, ebenso Details wie Fensterläden, Dachgauben und Rundbögen.

Im Zentrum der Mustersiedlung, rund um den heutigen Kolpingplatz, befanden sich die zentralen Einrichtungen wie das Gemeinschaftshaus und das Gemeinschaftsbad für die Arbeiter der Rüstungswerke - das spätere jüdische Bad. Die in Waldram vollzogene Umwandlung einer NS-Mustersiedlung in ein jiddisches Schtetl, das von bis zu 6000 Menschen bewohnt wurde, ist einzigartig.

Bis heute bestehende Bauten aus der Zeit des Nationalsozialismus dürfen nicht unkommentiert oder unerkannt bleiben, sind sie doch Ausdruck des menschenverachtenden Hitler-Regimes. So tragen das Badehaus Waldram-Föhrenwald, in naher Zukunft Erinnerungs-, Begegnungs- und Dokumentationsstätte, die Umwidmung des Verwaltungsgebäudes der Dynamit AG zum Rathaus Geretsried und der Erhalt des Ensembles an Schießstätt- und Alpenstraße in Wolfratshausen wesentlich zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Architektur bei. Obwohl sie zu den "unbequemen Denkmalen" zählen, sind es wichtige steinerne Zeitzeugen.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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