Streifzüge durchs Oberland:"Dann werden kleine Gipfel ganz groß"

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Ursula Weber ist Journalistin und Geschichtenerzählerin. Sie lebt in Ellbach bei Bad Tölz. (Foto: privat/oh)

Ein Spaziergang in der Natur kann heilsam sein. Gleiches gilt für eine gute Geschichte. In ihrem neuen Wanderführer bringt Ursula Weber beides zusammen. Ein Gespräch über das, was im Leben wichtig ist.

Interview von Stephanie Schwaderer, Bad Tölz

SZ: Frau Weber, Sie verstehen sich aufs Geschichtenerzählen und aufs Spazierengehen. Was haben die beiden Dinge gemeinsam?

Ursula Weber: Beides bringt uns zu unseren Wurzeln zurück. Wir leben in einer Welt, die wenig natürlich ist - Büros, Wohnungen, Firmen, Fabriken. Wenn wir in der Natur unterwegs sind, merken wir, dass wir an etwas sehr Ursprüngliches anknüpfen. Gleiches gilt für gute Geschichten. Sie erinnern uns an etwas, das wir eigentlich wissen, aber vergessen haben. Etwas, das wir im Herzen tragen, das aber im Alltag verschüttet ist. Bei den Afrikanern halten bis heute die Griots die Sagen, Geschichten und das traditionelle Wissen des Volkes lebendig. Sie sind sehr hoch angesehen.

In unserer Kultur ist das Geschichtenerzählen weitgehend verloren gegangen.

Das stimmt. In Österreich ist es noch ein bisserl anders. Das ist mir aufgefallen, als ich dort 2018 bei einem internationalen Erzählkunstfestival aufgetreten bin. Ich hab in großen Kultursälen bayerische Sagen und Geschichten erzählt, durfte aber auch in Einkaufszentren oder im Wald bei strömendem Regen Leute beglücken. Sie haben immer freudestrahlend reagiert: Ja gerne! Bei uns in Bayern ist die Reaktion eher: Um Gottes Willen, was will die jetzt von mir? Hier werde ich auch immer wieder gefragt, was für eine Ausbildung im Erzählen ich denn habe. Das ist, glaube ich, typisch deutsch.

Von einem guten Spaziergang kommt man verwandelt zurück. Können Geschichten eine ähnliche Kraft entfalten?

Oh ja. Wir lassen uns ja gerne von der Wissenschaft erklären, was wir eigentlich vorher schon wussten, Stichwort Shinrin-Yoku, Waldbaden. Mittlerweile belegen Studien, dass ein Spaziergang in der Natur etwas ganz anderes ist als ein Stadtspaziergang. Er reduziert den Stress, entspannt, stärkt die Kreativität - ganz anders, als es die gleiche Bewegung in der Stadt vermag. In einer von Menschen gemachten Umgebung fehlt etwas. Genauso versuchen wir oft, Werte über kognitive Arbeit zu vermitteln - über Gebote, Verbote, Gedanken und Vernunft. Ich hab lange als Lehrerin gearbeitet und weiß, das hat alles seinen Platz. Aber berührender und nachhaltiger ist es, über Erlebnisse und Erfahrungen zu lernen. Das tun wir indirekt über Geschichten. Auch von einem Geschichtenabend kommt man verwandelt nach Hause. Man nimmt etwas mit. Vielleicht kann man es ein bisschen mit einem guten Film vergleichen, aber Geschichten haben eine noch viel höhere Intensität.

Können Leute, können Kinder überhaupt noch zuhören?

Ja! Das ist faszinierend. Bei Schulklassen passiert es oft, dass gerade die Kinder, die als schwierig gelten, auf einmal Feuer und Flamme sind. Vermutlich, weil sie in der Seele berührt werden. Auch bei Erwachsenen ist es für mich immer wieder wundersam zu sehen, wie erfüllt und glücklich sie nach Hause gehen.

Das liegt wohl auch an der Geschichtenerzählerin. Warum hört man Ihnen gerne zu?

Ich denke, weil ich Geschichten erzähle, die jeden betreffen. Und weil ich diese Geschichten mit meinen Zuhörern wirklich teile und erlebe. Eine Geschichte gibt es immer nur im Dialog. Sie kann nie für sich alleine stehen. Man geht gemeinsam durch sie hindurch und wird berührt. Nur ganz wenige Menschen finden da keinen Zugang. Es gibt allerdings auch Geschichten, die wollen nicht von mir erzählt werden; das sind dann nicht meine Geschichten. Dann merke ich, ich komme nicht rein. Und das ist gut so. Auch in der Musik passt nicht jede Stimme zu jedem Stück. In meinen Geschichten geht es vor allem ums Lebensglück und um die Lebensfreude. Auf die habe ich mich auch in meinem neuen Buch konzentriert. Ich habe Geschichten ausgewählt, die zu den Touren passen, eine große Weisheit in sich tragen und zugleich schmunzeln lassen. Denn das ist ja das Witzige: Man amüsiert sich über eine Person und im Nachgang merkt man, das bin ja auch ich. Aber weil man darüber lachen kann oder die Geschichte eine gute Lösung parat hat, macht es einem Mut, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Zurück zur Natur: Was macht für Sie einen guten Spaziergang aus?

Ich versuche Wege zu finden, bei denen man auch die Stille genießen kann, und Wege, die das Herz zum Singen bringen. Ob das der Blick von der Aidlinger Höhe ist oder der verwunschene Pfad an kleinen Badebuchten, der im Winter reifüberfroren ist. Wenn ich mich dem öffne, trete ich ein Stück aus meinem Alltag heraus und lass mich beschenken von dem, was am Wegesrand auf mich wartet. Zum Beispiel vom Kalvarienberg in Lenggries, der relativ unbekannt ist. Wenn man den Weg über den Schlossweiher wählt, kann man in eine ganz verwunschene, märchenhafte Stimmung eintauchen.

Blick von der Aidlinger Höhe. (Foto: Ursula Weber/oh)
Wenn sie im Sportunterricht zum Hohenburger Weiher liefen, erhaschten Roman Haehl und Nikolaus Stock einen Blick auf die Mädchenschule im Schloss Hohenburg. Heute sind sie Rektor und Konrektor. (Foto: Ursula Weber)

Sie haben 20 Streifzüge zusammengestellt, die auch für Einheimische überraschend sein dürften. Wie sind diese Runden entstanden?

Auf ganz unterschiedliche Weise. Zum einen habe ich einen Hund, Tashi, der eine schwere Hüftdysplasie hat. Das heißt, Wandern scheidet mit ihm leider aus. Anfangs war das für mich eine Herausforderung. Er kam nämlich gerade in mein Leben, als ich mit den Wanderbüchern begonnen habe. Aber wie sagt man so schön: Aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Sinnvolles bauen, manchmal eine Brücke zu ganz neuen Ufern. Als ich - ohne Tashi - losgezogen bin, habe ich Runden entdeckt, die zauberhaft, aber für ein Wanderbuch zu kurz waren. Die bin ich dann mit ihm zusammen noch einmal abgegangen und hab die schönsten für mein Spazier-Buch herausgesucht. Mittlerweile kenne ich in Oberbayern viele Ecken und bekomme Tipps von Bekannten und Freunden. Dann werfe ich einen Blick ins Kartenmaterial - damit kann ich ganz gut umgehen - und probiere eine neue Runde aus.

Was haben Sie bei einem Spaziergang im Rucksack?

Meine Kamera. Wenn es eine größere Runde ist, ein bisschen Tee und eine kleine Brotzeit. Und bei einer Bergtour ein Gipfelbier.

Das Gipfelbier empfehlen Sie auch für den Spaziergang auf den Buchberg.

Da lohnt es sich auch! Die Runde bietet einmal einen ganz anderen Blick aufs Oberland.

Ungewöhnlich an Ihrem Führer ist, dass schon die Lektüre zu Hause anregend ist. Das liegt an den Geschichten, aber auch an den liebevollen und zugleich informativen Wegbeschreibungen. Wie haben Sie recherchiert?

Erst gehe ich die Runden ab, manche fünf-, sechsmal, und suche die beste Variante und den schönsten Startpunkt, gerne einen Platz mit Wow-Effekt bei der Aussicht. Dann setze ich mich zu Hause hin und sammle Informationen zu den Sehenswürdigkeiten am Wegesrand. Manchmal besorge ich mir die Chronik eines Ortes, anderes finde ich im Internet. Dort bin ich beispielsweise darauf gestoßen, dass es am Dietramszeller Kreuzbichl einen Fingerstein gibt. In seine Aushöhlungen haben die Pilger einst ihre Finger gelegt und gehofft, von Rheuma, Krampf und Gicht geheilt zu werden. Die Kapelle ist meistens verschlossen. Also habe ich im Pfarramt angefragt und durfte mir die Schlüssel ausleihen. Bei der wiedererstandenen Seidl-Villa in Bad Tölz habe ich den jetzigen Hausherrn Franz Roeckl angerufen und gefragt: Darf ich ein Foto machen? Und so entstehen immer neue Kontakte. Alles, was ich selbst spannend finde, lasse ich in meine Texte einfließen. Das Buch soll Leute ansprechen, die nicht fünf Gipfel in zwei Tagen machen wollen, sondern Freude daran haben, die Umgebung zu entdecken und lieb zu gewinnen. Denn nur dann, wenn wir zu etwas eine Beziehung haben, schützen wir es auch.

Der Fingerstein am Kreuzbichl in Dietramszell. (Foto: Ursula Weber/oh)
Auch die Seidl-Villa in Bad Tölz durfte sie fotografieren. (Foto: Ursula Weber/OH)

Das trifft leider nicht für alle Leute zu, die ihre Freizeit in den Bergen verbringen.

Es ist traurig, wie beziehungslos sich manche Menschen in der Natur benehmen. Die Berge sind ja keine Freizeitkulisse, sondern ein Lebensraum - von Menschen, Tieren und Natur. Je mehr ich darüber weiß, desto sinnvoller kann ich damit umgehen.

Wie reagieren Einheimische darauf, wenn sie merken, dass ein neuer Wandertipp an ihrem Haus vorbeiführt?

Das hat sich gewandelt. Als ich angefangen habe mit den Märchenwanderungen, gab es noch eine große Offenheit. Mit Corona kam der Run auf die Berge. Mein neues Büchlein spricht nun aber nicht das Mainstream-Publikum an und erzeugt bestimmt keine Instagram-Hotspots. Es richtet sich an Menschen, die nachhaltig in der Natur unterwegs sind. Wenn ich mit Einheimischen ins Gespräch komme, merken sie das auch und sind in der Regel aufgeschlossen. Es geht ja darum, dass der Mensch sich an der Natur erfreut. Weil wir das brauchen. Deshalb konnte ich die Leute auch gut verstehen, die beim Lockdown in die Berge gefahren sind. Das hätte ich auch gemacht, wenn ich in München wohnen würde. Aber die Umsetzung war nicht immer glücklich. Die Frage ist, wie ein Miteinander gelingen kann. Da versucht mein Buch, Wege zu erschließen und Türen zu öffnen. Deshalb leite ich die Leute zu geeigneten Parkplätzen oder gebe Tipps zu den Jahreszeiten. Nach Zwergern am Walchensee würde ich nicht unbedingt im Sommer fahren.

Darf man Geheimtipps verraten?

Manchmal frage ich mich, ob es sie überhaupt noch gibt, denn das Internet hat auch entlegene Gebiete transparent gemacht. Die Touren, die ich aufgenommen habe, sollen Leute inspirieren, mit allen Sinnen mal eine neue Ecke zu erkunden. Schließlich freut sich jeder darüber, wenn ihm jemand eine neue, schöne Runde empfiehlt. Mein Büchlein hat eine kleine Auflage. Ich denke nicht, dass diese Wege nun überlaufen sein werden. Unsere Berge sind seit Beginn der Pandemie so stark frequentiert wie noch nie. Für mich ist das vergleichbar mit dem Medienkonsum: Es geht nicht darum, die Medien zu verteufeln, sondern den richtigen Umgang zu finden. Weniger ist manchmal mehr.

Warum haben Sie für den Titel das Wort "Sonntagsspaziergänge" gewählt?

Natürlich kann man die Touren an allen anderen Tagen auch machen. Aber es geht um Verlangsamung, Entschleunigung und um Genuss. Immer mehr Menschen merken, was wirklich zählt. Nicht Schnelligkeit und Masse, sondern das Hier und Jetzt. Wenn man sich dafür öffnet, werden auf einmal kleine Gipfel ganz groß. Wer 700 Höhenmeter am Tag bezwingt, hat am Abend oft weniger erlebt als jemand, der auf einem Hügel verweilt und genießt.

Ursula Weber mit ihrem Hund Tashi am Kochelsee. Alle Aufnahmen stammen aus ihrem Buch "Die schönsten Sonntagsspaziergänge für alle Jahreszeiten". (Foto: Ursula Weber/oh)

Ursula Weber: "Die schönsten Sonntagsspaziergänge für alle Jahreszeiten. 20 Ausflüge ins südliche Oberbayern", Volk Verlag München, 16.90 Euro; weitere Infos unter www.erzaehlzauber.de

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