Ausstellung:Eine Schau für Sehsüchtige

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Die Künstlervereinigung Lenggries eröffnet an diesem Freitag ihre Kunstwochen mit dem Titel "Spielräume". Ernst Wiegerling alias e.lin und Andreas Kuhnlein setzen starke bildhauerische Akzente.

Von Felicitas Amler, Lenggries

Holzfiguren - mit der Kettensäge erstellt. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Man erblickt durch diese Sehschlitze nichts, was man ohne sie nicht auch hätte sehen können. Doch man schaut anders. Und sieht auf der einen Seite: ein oberbayerisches Idyll, Häuser mit reich blühenden Geranienbalkonen und grünen Fensterläden, eine Kirche mit Zwiebelturm, satte Landschaft, dahinter weich schwingend die Berge. Und auf der anderen Seite: eine Flüchtlingsunterkunft, Container, alles eher grau, Handtücher hängen zum Trocknen notdürftig aus dem Fenster, ein Kinderwagen steht ein wenig im Weg. Der Künstler e.lin - bürgerlich Erwin Wiegerling - öffnet Blick und Bewusstsein mit seinem "Denkhaus", das Teil der aktuellen Ausstellung der Künstlervereinigung Lenggries (KVL) ist. Es steht draußen im Garten und lädt dazu ein, sich im doppelten Sinn nach innen zu wenden: In dem kleinen Holzbau kann man sich hinsetzen und Gedanken zu Papier bringen. Diese Notiz kann man dann in eine rot lackierte Briefsäule werfen, die der Öffentlichkeit auf ewig verschlossen bleiben wird. "Flucht und Gefahr, Geborgenheit und Schutz" sind e.lins eigene Assoziationen zu seinem Werk. Es ist aber auch ein Spiel - ein Spiel mit Sichtweisen, mit Gedanken, mit Gefühlen. Und passt insofern genau in diese Ausstellung, die den Titel "Spielräume" hat.

Wiegerling gehört zu jenen Künstlern, die hier, am und im ehemaligen Schlossbrauereigebäude in Lenggries, die eindrücklichsten Akzente setzen. Er ist im Freigelände noch mit zwei starken Stahlarbeiten präsent und empfängt den Besucher im Hauptraum mit einem ausladenden Environment: "Salve a tutti", so grüßt die Leuchtschrift über einem afrikanischen Einbaum vor einer Schwarz-Weiß-Fotowand mit Steinhaufen und dürrem Geäst. Lampedusa, das Meer, kenternde Boote, Ertrinkende - schlimme Bilder erstehen vor dem geistigen Auge.

Ein anderer Bildhauer, der die Blicke auf sich zieht, ist Andreas Kuhnlein. Ein grandioser Handwerker, der dem Holz mit der Kettensäge "Schein und Sein" entlockt, so der Titel aller drei Paare, die der Künstler im Halbrund vor der Bühne des Ausstellungsraums positioniert hat. Schein und Sein, das ist immer eine Figur in ihrem äußerlich unversehrten Erscheinungsbild und ein zweites Mal in einer Darstellung, die ins Innere blickt: kaputte Gestalten, armselige, elende. Eine geistliche Person ("Stellvertreter"), eine mächtige ("Repräsentant") und eine mit gesellschaftlicher Rolle ("Feine Dame") werden auf diese Weise gebrochen. Die Gruppe dieser archaisch wirkenden sechs Figuren hat etwas ungeheuer Trostloses, und gleichzeitig ist die Atmosphäre von einer befreienden Ehrlichkeit. Oben auf der Bühne dann noch eine vierte Paarung Kuhnleins: ein Gorilla im engen Käfig und ein davor kniendes Kind; jeder schaut den anderen an. "Einblick - Ausblick" ist der Titel.

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Die Künstlervereinigung Lenggries eröffnet an diesem Freitag ihre Kunstwochen mit dem Titel "Spielräume". Ernst Wiegerling alias e.lin und Andreas Kuhnlein setzen starke bildhauerische Akzente.

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Genau hinschauen - das könnte auch eine Aufforderung zu den Bildern von Ecki Kober sein. Farblich dominant hängen sie unübersehbar gleich im Eingang des Saals: drei im Wortsinn attraktive Arbeiten, je 1,54 mal 1,77 Meter groß, scheinbar monochrom. Schon der zweite Blick erweist, dass sie Struktur und Schattierung haben. Aber erst ein Gespräch mit dem Künstler führt vors innere Auge, was alles dahinter steckt. Kober spannt Papier auf einen Holzträger, legt Japanpapier zart gefältelt darüber und übermalt, und übermalt, und übermalt. Zwei Schichten Gelb, drauf drei Schichten Lindgrün - wer hätte das hinter diesem kraftstrotzenden Rot vermutet! - und schließlich alles, was an Rot zu bieten ist: Zinnober und Scharlach und Karmin. "Nach den ersten zehn Schichten ist man immer enttäuscht", sagt Kober, da sehe das Ganze noch nicht gut aus. Aber so nach 20, spätestens nach 25 Schichten weiß er: Jetzt noch zweimal mit Pastellkreide darüber, und dann ist's aber auch gut. Richtig gut, kann man nur bestätigen.

Was geschehen kann, wenn Künstler genau hinschauen, zeigt Heidi Gohde mit ihren Fotografien, die wie Gemälde wirken. Dabei hat sie nur das richtige Auge für einen Schrottcontainer gehabt - und plötzlich sieht eine aufgeplatzte Farbschicht, Weiß auf Grün, wie ein Palmwedel aus oder wie ein Pinselwischer auf Leinwand.

Es gibt noch viele Spielräume in dieser Ausstellung, witzig und politisch wie die Collagen von Paul Schwarzenberger; nachdenklich wie die Gouachen von Jürgen Dreistein; zum Mitmachen einladend wie die Installation von Ursula Maren Fitz; poetisch wie die Aquarelle von Sophie Frey; verblüffend wie die fototechnischen Spielereien von Günter Unbescheid; ausgeklügelt wahn-witzig wie das x-tausendfache Würfelspiel auf Leinwand, das Gabi Pöhlmann zeigt. - Eine Schau, die sehsüchtig macht.

Kunstwoche Lenggries; Vernissage, Freitag, 16. September, 19 Uhr, Geiersteinstraße 7 (Ausstellung bis 3. Oktober)

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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