Wissenschaft:Gesünder leben mit Anstandsdamen

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Blick nach vorn: Franz-Ulrich Hartl forscht am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Bis aus seinen Erkenntnissen irgendwann ein wirksames Medikament wird, werden seiner Meinung nach aber noch mindestens zehn Jahre vergehen. (Foto: Catherina Hess)

Franz-Ulrich Hartl ist Zellbiologe am Max-Planck-Institut. Seine preisgekrönte Grundlagenforschung über Chaperone wird als Schlüssel für die Heilung von Krankheiten wie Alzheimer und Demenz gesehen - er selbst gibt sich aber bescheiden

Von Julia Bergmann

Itika Saha kümmert sich um ihre Babys. Prall und gut genährt sehen sie aus, sechseckig und grün. Saha forscht am Max-Planck-Institut für Biochemie im Team um den Zellbiologen Franz-Ulrich Hartl. "Ihre Babys" sind hunderte, unter dem Mikroskop grün leuchtende Zellen und für Hartls Forschung essenziell. Grün erscheinen sie, weil sie mit Hilfe bestimmter Mittel besser sichtbar gemacht wurden. "Das Hellgrüne sind Proteine", sagt Saha. Jeden Tag achtet die Wissenschaftlerin darauf, dass sich die Zellen wohlfühlen und gedeihen. Nicht nur die gesunden. Sie greift in einen kühlschrankgroßen Brutkasten aus Stahl, holt ein neues Schälchen heraus und stellt es unter das Mikroskop. Alzheimer-Zellen. Der Unterschied? Drastisch. Dort, wo zuvor die komplett gefüllten Sechsecke waren, ist nur noch eine Art Gerüst geblieben. Hunderte leerer Hüllen. In ihrer Mitte jeweils ein kleiner grüner Punkt. Das Protein, das einst die Zelle ausgefüllt hat, ist zu einem winzigen Knäuel verklumpt.

Wenige Zimmer weiter sitzt der Mann, der eben diesem verklumpten Protein den Kampf angesagt hat: Franz-Ulrich Hartl, 62, Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie. Gemeinsam mit Arthur L. Horwich hat er widerlegt, dass sich Proteine von alleine falten. Es gibt dafür Helfer in der Zelle, sogenannte Chaperone. Die ersten wichtigen Befunde dazu erhielten die Forscher in den späten Achtzigerjahren in Zusammenarbeit mit Walter Neupert, in dessen Abteilung an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) Hartl damals arbeitete. Die Folge: ein Paradigmenwechsel in der Zellbiologie. Und nicht nur das. Diese Entdeckung könnte der Schlüssel zur Heilung von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson sein.

Hartl ist 1957 in Essen geboren. Er studierte Medizin an der Universität Heidelberg. "Das war damals noch der gängige Weg in die Zellbiologie", sagt Hartl. Er entschied sich gegen eine Laufbahn als praktizierender Arzt. "Das hat vermutlich vielen Menschen das Leben gerettet", sagt er, ein Lächeln auf den Lippen. 1982 promovierte Hartl. Seine Habilitation legte er 1990 an der LMU in München ab. Es folgten Forschungsaufenthalte im Ausland, etwa am Sloan-Kettering Institute in New York und eine Professur an der Cornell University. Sie zählt zu den renommiertesten Universitäten der Welt. Bereits in jungen Jahren stieß Hartl auf die Bedeutung der Chaperone, wofür er eine ganze Reihe von Preisen erhielt. Zuletzt den Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstädter-Preis.

Aber wie arbeiten die Chaperone? Wie Hartl erklärt, können Proteine ihre Funktion im Körper erst erfüllen, wenn sie gefaltet sind, also eine bestimmte dreidimensionale Struktur angenommen haben. "Dabei können sehr ästhetische Strukturen entstehen", sagt er und zeigt auf ein großes Schaubild. Elegante Schwünge, verspielte Linien. Wenn Proteine in der Zelle gebaut werden, sieht das aber erst einmal anders aus. Zu Beginn sind sie nur einzelne, lange Stränge. Diese sind klebrig, sie haften leicht aneinander und verklumpen schnell. Hartl und Horwich waren die ersten, die beobachteten, dass es Helfer gibt, die das verhindern und zum Teil sogar rückgängig machen können. Kleine Teilchen, selbst Proteine, die auseinanderhalten, was nicht zusammengehört: die Chaperone, zu deutsch: Anstandsdamen. Ihre Zahl nimmt für gewöhnlich im Alter ab, das heißt, die Verklumpungen nehmen zu. Das begünstigt die Entstehung vieler Krankheiten. "Die Menschen werden heute immer älter", sagt Hartl. An sich schön. Wenn die Leute nur länger gesund bleiben könnten. "Krankheiten wie Alzheimer nehmen zwar nicht zu, aber wir sehen sie häufiger, weil die durchschnittliche Lebenserwartung gestiegen ist." Man müsse einen Weg finden, wie sich die mit den Jahren sinkende Kapazität der Chaperone wieder auf das richtige Level bringen lässt.

Wie weit die Forschung da schon ist? "Es gibt Hinweise, dass es eine Strategie geben könnte", sagt Hartl. Ganz vorsichtig. Er ist kein Mann, der Hinweise als Durchbrüche verkauft. Die Hinweise, von denen er spricht, habe man bei Versuchen mit Würmern, Fliegen, Mäusen sammeln können. Auf den Menschen lassen sie sich also nicht mit Gewissheit übertragen. Bis aus diesen ersten Erkenntnissen irgendwann ein wirksames Medikament wird, werden laut Hartl noch mindestens zehn Jahre vergehen. "In einer klinischen Studie kann noch viel passieren", sagt er.

Grundsätzlich wisse man - auch aus Versuchen mit Würmern - dass die Bildung von Chaperonen durch bestimmte Reize angeregt werden kann. "Chaperone sind Stressproteine", sagt Hartl. Vermehrt gebildet werden sie etwa durch einen Hitzereiz. Würmer, die diesem in einer frühen Phase ihres Erwachsenenlebens ausgesetzt waren, lebten deutlich länger. Man wisse aus ähnlichen Versuchen aber auch, dass sich regelmäßige und moderate Bewegung sowie eine Reduktion der Kalorienzufuhr günstig auswirke. "Mens sana in corpore sano", sagt Hartl. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. "Oder wer rastet, der rostet." Sprichwörter, die durch Hartls Forschung gestützt werden.

Seine Entdeckung war, das sagt er immer wieder, "großes Glück". Glück - nicht Erfolg. "Es gibt viele hervorragende Wissenschaftler, die nie so etwas beobachten." Weil es der Zufall nicht will. Und Stolz? "Natürlich erzeugt es eine gewisse Befriedigung", sagt Hartl nach einem Moment des Zögerns. "Wenn du etwas siehst, was nur wenige bisher gesehen haben, das ist faszinierend."

Anstatt über den Umbruch zu sprechen, den seine Beobachtung bedeutete, oder über die lange Liste der Preise, die er für seine Forschung bekommen hat, redet Hartl lieber über die Grundlagen seiner Arbeit. Die vielen Zusammenhänge, auf die er in den vergangenen Jahrzehnten gestoßen ist. Die Reihe von Entdeckungen, die sich nach und nach zu einem größeren Bild zusammengesetzt haben. Hartl hat experimentiert, Zellbestandteile isoliert, geprüft, ob einzelne Prozesse dann immer noch funktionieren. "Es ist ungefähr so, als würde man ein Radio auseinanderbauen und wieder zusammensetzen", sagt er. Erst wenn man das gemacht hat, versteht man, wie das Ganze funktioniert.

"Wir hatten bei unserer Forschung immer das Glück, dass sich neue Aspekte ergeben haben", sagt Hartl. Auch der Zusammenhang mit den Krankheiten: Glückssache. "Man kann praktisch süchtig danach werden, solche kleinen Schritte zu entdecken." Als er das sagt, verändert sich für einen Moment seine Mine. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Ein zufriedenes Lächeln, als wäre Hartl zurück in den Achtzigerjahren. In dem Moment, als er erkannte, welche Funktion die Chaperone haben.

Hartls Entdeckung, das sagt er selbst, ist nicht die einzige, die eine Chance auf die Heilung neurodegenerativer Krankheiten verspricht. Es gebe in der Forschung immer auch krankheitsspezifische Ansätze. Der Lösungsweg, den die Chaperone versprechen, sei aber der universellste. Eine Lösung für viele Probleme. Weil mögliche Medikamente aber an ganz grundlegenden Vorgängen in der Zelle ansetzen müssten, könnten auch mögliche Nebenwirkungen gravierend sein. Große Risiken, große Chancen.

Hartl wird sich auch weiterhin mit den Chaperonen beschäftigen. Er will herausfinden, wie Zellen schädliche Proteinaggregate, die bei Alzheimer von Bedeutung sind, wieder auflösen können. "Es gibt hierfür offenbar besondere Chaperone, die Proteinverklumpungen wieder aufzwirbeln." Dass er daran weiterforschen kann - Hartl würde vielleicht sagen Glückssache. Vielleicht aber auch ein Frage des Erfolgs. "Es war immer mein Traum, in die Max-Planck-Gesellschaft zu kommen", sagt er. Hier sei der richtige Ort für langfristig angelegte Forschung. Die Finanzierung sei gesichert, es brauche keine immer neuen Forschungsanträge, und es gebe nicht den Druck, jedes Jahr auf Biegen und Brechen spektakuläre Forschungsergebnisse präsentieren zu müssen. In der Welt der Wissenschaft keine Selbstverständlichkeit. Dazu komme ein bereicherndes Arbeitsumfeld, die Zusammenarbeit mit jungen Kollegen aus aller Welt. Wissenschaftlern aus Indien, den USA, Neuseeland, Südkorea und Chile. "Es ist sehr reizvoll", sagt Hartl. "Auf diese Weise kann man auch ein bisschen länger jung bleiben."

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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