Westend:Der Ball des Lebens

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Auf dem Hof der Unterkunft an der Tübinger Straße spielen pakistanische Flüchtlinge Cricket, das Spiel ihrer Heimat. Es vertreibt ihnen die Zeit, von der sie mehr als genug haben

Von Bastian Hosan, Westend

Aftab wirkt müde. In seinem Mundwinkel steckt eine Zigarette, selbstgedreht. Als er daran zieht, fällt Asche auf seine blaue Sportjacke - egal. Mit seiner freien Hand wischt er die weiß-grauen Krümel weg, in der anderen Hand hält er einen Schläger. Ausgefranstes Holz am Ende, abgewetztes blaues Band am Griff. So liegt er besser in den Händen. Der Tennisball: ausgelutscht. Nicht mehr gelb, sondern vollgesogen mit Brühe aus den Pfützen unterm Toilettenwagen.

"Bei uns spielt fast jeder Cricket", sagt Aftab. Er steht in einer Gruppe von Männern unterschiedlichen Alters, die alle aus ihrer Heimat Pakistan geflohen sind. Jetzt leben sie in München in der Flüchtlingsunterkunft an der Tübinger Straße im Westend. Es sind allesamt Männer mit müden Augen und einem schüchternen Lächeln. Aftabs Alter lässt sich nur schwer schätzen. Er sieht abgekämpft aus, die Augen liegen tief in den Höhlen, an einer Hand fehlt ein Finger. Kaum zu glauben, dass er erst 29 Jahre alt ist.

Zwischen zwei Spielen raucht er. Er raucht, er erzählt. Von seiner Flucht spricht er nicht. Warum auch? Da ist alles erzählt. Er ist weggegangen von zu Hause. Mehr gibt es nicht zu sagen. Also rauchen - und Cricket spielen. Eigentlich haben die Bewohner der Unterkunft dafür gar kein Feld; sie spielen auf dem ehemaligen Parkplatz der Fabrik, in der sie untergebracht sind. Begrenzt wird er von der Rückwand eines Hotels. Sie ist grau von den Bällen, die dagegen fliegen. Auf der anderen Seite liegt die Halle, in der die Männer leben. Immer wieder landet der Ball auf dem Dach, immer wieder klettert einer der Spieler mit Hilfe einer Leiter hinauf und sucht ihn.

Weiter geht das Spiel. Denn es ist ihr Spiel. In Pakistan, erzählt Aftab, gebe es zwei Arten Cricket. Zum einen das der Städter, die in weißen Trikots spielen, auf richtigem Rasen, auf richtigen Spielfeldern. Sie haben richtige Bälle, harte Cricketbälle, keine Tennisbälle. Dann gibt es noch das Cricket der Kinder in den Dörfern. Sie spielen auf den Straßen und Plätzen. Cricket ist da, wo das Leben ist, mittendrin. Das Spiel nimmt eine zentrale Rolle im Leben vieler Pakistaner ein. Deshalb haben sie es mitgebracht - weil es hilft, die Zeit tot zu schlagen, von der sie hier in der Unterkunft mehr als genug haben. Und es hilft, sich kennen zu lernen. Freunde hatte keiner, bevor er in München ankam. Die meisten der Männer sind alleine von zu Hause weggegangen und alleine in München angekommen. Jetzt warten sie darauf, dass endlich etwas passiert. Dass ihre Anträge bearbeitet werden. Sie warten darauf, dass sie arbeiten können oder darauf, dass sie Deutschland wieder verlassen müssen. Das aber liegt nicht in ihrer Hand, das liegt in der Hand des Staates. Und so lange spielen sie. Cricket eben.

Ein Spiel dauert ewig. Zumindest Stunden. Oft einen Tag, manchmal mehrere. Nur wenige können sich Sportarten wie Hockey oder Volleyball leisten. Dafür braucht man einen großen Platz, viel Ausrüstung. Nicht aber für Cricket, es reichen ein Ball und ein Schläger. Das macht den Reiz dieses Spiels aus, der ganz Pakistan erfasst. Die Seele der pakistanischen Nation fängt Feuer, geht es um diesen Sport. Ehemalige Spieler wie Imran Kahn schaffen es in der Politik ganz nach oben. Sie sind Hoffnungsträger, Helden nicht nur auf dem Spielfeld. "Wenn wir in die Schule gehen: Cricket. Wenn wir fernsehen: Cricket. Im Radio: Cricket", sagt Aftab. Spielt jeder in Pakistan? Fast, sagt Aftab. Warum auch nicht? Es ist ein gutes Spiel.

Hier in München spielen sie das Cricket der Dörfer. Sie spielen das Cricket derer, die nichts haben, nicht mal mehr ihre Heimat. Manchmal spielen sie im Park, meistens aber im Hof der Unterkunft. Nur einen Schläger haben sie. Und Tennisbälle. Anstatt eines Wickets - das ist das, was der Werfer hinter dem Mann mit dem Schläger treffen muss - haben sie eine weiße Kiste aufgestellt. Dumpf prallt der Ball dagegen. Die Spieler kommen aus allen Ecken Pakistans, die meisten sind jung. Bhatti, 21 Jahre alt, ist seit etwas mehr als drei Monaten in Deutschland. Cricket, sagt er, sei sein Leben gewesen. Als wollte er das bekräftigen, ruft er den Namen seines Lieblingsspielers. "Boom Boom Shahid Afridi." Niemand schlage die Bälle besser, sein Name, das sagen die Flüchtlinge, ist Programm: "Boom, boom." Afridi genießt Heldenstatus. Nicht nur in der Unterkunft, sondern in ganz Pakistan.

Mohsin sagt, dass er vor seiner Flucht sechs Jahre professioneller Spieler war. In England, Südafrika und Indien habe er gespielt. Dann aber habe er fliehen müssen. Jemand hat ihn und seine Familie bedroht. Jetzt ist der 25-Jährige in Deutschland und hofft. "Ich bin ein guter Spieler", sagt Mohsin. Er ist der beste, sagen die anderen in der Unterkunft. Mohsin aus Lahore, professioneller Cricketspieler. Ein kleiner Cricketheld im Pantheon der Crickethelden. Gestrandet an der Tübinger Straße.

© SZ vom 30.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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