Es gibt Menschen, die was mit Medien machen. Solche, die was mit Kommunikation machen. Und jene, die was mit Werbung machen. Das sind die sogenannten Kreativen. Und obwohl der Gestalter Michael Keller einer der wichtigsten deutschen Marken- und Designagenturen vorsteht, dem Münchner Unternehmen KMS Blackspace, weshalb er zu tun hat mit Werbung, Kommunikation und Medien, also ebenfalls ein Kreativling ist, so tritt man ihm hoffentlich nicht zu nahe, wenn man ihn innerhalb der Systematik professioneller Kreativität so verortet: Im Grunde macht er ja was mit Käsekuchen.
Ziemlich erfolgreich sogar.
Nein, das ist nicht despektierlich gemeint. Es ist eher ein Staunen über ein Tun, das dann doch sehr seltsam anmutet in einer Branche, die sich gemeinhin gar nicht dynamistisch genug geben kann. Michael Keller und sein analoges Oma-Käsekuchen-Ritual: Das ist so etwas wie das retardierende Moment auf einem Terrain des ständigen digitalen Gasgebens. Michael Keller bringt zu wichtigen Besprechungen stets einen großen Käsekuchen in einem Pappkarton mit.
Da er sich meist mit den Bossen und Oberabteilungsleitern von Weltkonzernen trifft, darf man sich Michael Keller vorstellen, wie er inmitten der geschäftigen Chefatmosphäre in den oberen Etagen von Adidas, Audi, Credit Suisse, O2 oder Sky, die sich allesamt von Kellers Markenagentur zukunftssichernde Ideen auf einem Silbertablett erhoffen, erst mal einen Käsekuchen im Pappkarton präsentiert. Es ist nicht abwegig zu vermuten: Genau deshalb ist Michael Keller so erfolgreich. Er tut nicht, was man erwartet. Er überrascht - und lächelt sehr freundlich dabei.
Doch, das ist kreativ. Außerdem ist es nicht untypisch für seine Biografie: Geboren in Glendale, Los Angeles County, USA, studierte Michael Keller in München und an der Parsons School of Design in New York. Dort erhielt er ein Stipendium der Cooper Union. So weit, so Wikipedia. "Was da nicht drinsteht", sagt Keller lächelnd, "sind all die Schulen, die ich besucht und wieder verlassen habe." Den Schüler Keller muss man sich als schwierigen Schüler vorstellen. Seinen Lehrern blieb verborgen, dass er mal das Audi-Museum in Ingolstadt konzipieren würde; dass er das Erscheinungsbild der Münchner Pinakotheken bestimmen sollte; dass er Vodafone oder Mercedes betreuen könnte.
Übrigens beendet er Briefe und Mails so: "bis gleich." Michael Keller ist also schon mal jemand, der einerseits das Gaspedal durchdrückt, bis gleich, ja am liebsten bis vorhin, Tempo, Tempo, und der andererseits ein wunderbares Antidot gegen die allumfassende Dynamisierung der Markenwelt kennt: das Käsekuchenritual. Die Mail-Formel bedeutet: Es kann gar nicht schnell genug gehen. Während der Käsekuchen flüstert: Mach mal halblang.
Im Design-Ranking der Fachzeitschrift Horizont belegt KMS Platz zwei unter den 25 größten deutschen Corporate-Design-Agenturen. In allen möglichen Konkurrenzen und bei diversen Preisen wie etwa dem "German Design Award" wird KMS gewohnheitsmäßig ausgezeichnet.
Wenn man nun wissen will, was den Unterschied zwischen KMS und Nummer 25 ausmacht, so ist ein Teil der Antwort: der Käsekuchen. Der befördert die Emotionen und entschleunigt den dynamischkreativen Wusel einer Ideen-Fabrik, die sich ohne mit der Wimper zu zucken den Satz "Mindshiften ist gelebtes Employer Branding" auf die solcherart gebrandete Homepage schreibt. Man hat ja immer ein bisschen Angst vor dem Werberweltlärm. Zu Recht.
Der Käsekuchen aber ist Story, identitätsstiftendes Moment und Trojanisches Pferd in einem. Es kommt immer dann zum Einsatz, wenn der 52-jährige Chef-Kreative mal wieder einem Unternehmen eine neue Markenstrategie verpassen will. Notfalls nimmt Keller den Käsekuchen auch mit ins Flugzeug - "in New York konnte ich ihn einmal nur durch die Kontrolle schmuggeln, indem ich ihn als wichtiges Architektur-Modell ausgegeben habe".
Das Ritual gibt es seit 30 Jahren. Damals, inmitten der Achtzigerjahre, wurde KMS in München gegründet - in brach liegenden Hallen. Der Vermieter, eine Familienbäckerei, bot nicht nur Raum, sondern auch den Käsekuchen. So wurde daraus: eine Chiffre, eine Kommunikationsstrategie - und eine nette Geste, die zugleich ein cleverer Trick ist.
Michael Keller ist jemand, der Marken erfinden kann, indem er der Marke selbst bewusst macht, was ihr Wesen ist. Was ihre Möglichkeiten sind. Oder auch Unmöglichkeiten. Schwierigster Auftrag derzeit: VW nach Dieselgate. Michael Keller will dem Konzern wieder klarmachen, dass er da außer dem Wagen auch noch ein Volk im Namen trägt. Eines, das sich nicht gern behumsen lässt.
Die Autobranche hält große Stücke auf die Wundertaten von KMS. Für Porsche, Bentley, Lamborghini hat man schon erfolgreich den Thinktank gegeben. Nicht immer gibt es für die strategische Unterstützung auch viel Geld. Manchmal schon. Und manchmal: fast nichts. Es sei denn, man würde Kontakte und Ideen als alles bezeichnen, was auch nicht falsch wäre. "Einmal habe ich eine Kreidler Florett bekommen", erzählt Michael Keller. Quasi als Bonuszahlung. Sie steht in der KMS-Zentrale in der Tölzer Straße 2c.
Man betritt die einstige Fabrikhalle durch einen Eingang, der mit seinen langen schwarzen Vorhängen ein Abenteuer, ein dunkles Geheimnis oder Gefahr zu verheißen scheint. Dann steht man in der Agentur. In einer gigantischen, stützenfreien Halle, in der sich Dutzende von Mitarbeitern ein einzigartiges Raumkontinuum aus Tischen, Monitoren, Nippes, Büchern und Ideen geschaffen haben. Streng geordnet wie in einer Fabrik. Aber frei wie in Fantasia. Nur der Tisch von Keller, der zwar - modern, modern - auf ein eigenes Büro ostentativ verzichtet, aber dennoch, ostentativ geradezu, auf einer Empore untergebracht nicht den Überblick verliert, ist ein Ort des Wahnsinns.
Der Tisch ist einem Krater ähnlicher als einer Arbeitsfläche. Darunter entdeckt man einen Helm. Schwarz, was sonst, denn auch der ganze Michael Keller scheint kein Kleidungsstück zu besitzen, das nicht schwarz ist, weshalb er einer Firma namens KMS Blackspace zur Ehre, wenn nicht zur Signatur gereicht. Eigentlich wollte er ja mal Architekt werden, also Mitglied einer Zunft, die sich gern schwarz einfärbt. Jedenfalls gehört zum Helm die legendäre Florett. Das ist ein Mokick mit liegend eingebautem Einzylinder-Zweitaktmotor. Mit Gebläsekühlung. Das Modell an der Tölzer Straße wurde am 2. Mai 1963 zusammengeschraubt. An Kellers Geburtstag.
Vor einigen Jahren war das Mokick eine Art Honorar für einen Auftrag, den man nicht ablehnen kann. Damals sind zwei Filmleute zu Michael Keller gekommen. Sie hatten in Berlin eine "Filmproduktion" gegründet. Nun sollten sie eine wichtige Filmförderung erhalten. Problem: Sie hatten eigentlich gar nichts vorzuweisen, keinen Namen, kein Briefpapier, kein klares Konzept, kein Logo . . . Sie hatten nur eine Idee, aber keinen Plan, keine Identität. KMS sollte es richten. "Bis wann?", fragte Keller die jungen Filmschaffenden. "Äh, hm, bis in einer Woche?" Das war das Problem. Keller und sein Team lösten es innerhalb von Tagen. Eine heute erfolgreiche Marke war geboren. Und davon erzählt die Florett, von der wiederum der Helm erzählt, der sich unter einem Schreibtisch befindet, der ebenfalls etwas erzählt.
Zum Beispiel: Dass Michael Keller der Krater-Typ ist. Als "Desk-Volcano" (Schreibtischvulkan) bezeichnet der britische Psychologe Mark Lansdale, der Schutzheilige aller Büro-Messies, einen typischen Chaos-Tisch: Die Mitte ist kraterartig freigeräumt, während drumherum Wände steil aufragen. Auf Michael Kellers Schreibtisch bilden unzählige Papiere die Kraterwände. Hübsch analog. Darunter lagert auch ein Karton mit einem Glasreiniger sowie eine Medaille am roten Band, verliehen offenbar für gute Chef-Leistungen. Eine Leistung besteht darin: den einzigen wahrhaft unaufgeräumten Tisch bei KMS zu besitzen.
Die Vulkan-Theorie glaubt übrigens, dass verslumte Schreibtische effizienter als die klinisch reinen Steppen der Ordnungsliebe sind. Beim Herrgott-wo-ist-denn-nur-Suchen nach bestimmten Dokumenten komme man auf Ideen. Das Chaos sei anregend. Der Büro-Krater sei den Bürokraten deutlich überlegen. Übrigens sagt so ein zugemüllter Schreibtisch ja auch: Hier wird so was von gearbeitet. Nur Arglistige kommen dagegen zu dem ebenfalls denkbaren Schluss, wonach auch das Gegenteil richtig sein könnte.
Nicht gearbeitet im Sinn der Bürokraten, wohl aber im Sinne der Büro-Krater, und zwar vorsätzlich, wird in der gewaltigen Küche bei KMS. Zugleich Denkraum. Redekubus. Wegdösmöglichkeit. Hier gibt es Essen, Trinken, lange Tische - nicht zum Arbeiten, sondern zum Zusammensein. Dazu Teppiche, Kerzen, viele Kerzen und noch mehr Kerzen: Es ist wie auf der idealen Party. Man möchte sich sofort hinsetzen und Kreativling werden.
Es ist herrlich hier - und weil man schon mal dasitzt und Kinderaugen macht über eine Firma, die mehr nach WG als nach Thinktank aussieht, tatsächlich aber beides ist, erhält man auch gleich noch eine Geschichte hingebrandet: "Diese Küche", sagt Keller zwischen zwei Käsekuchen, "ist eigentlich wie KMS: außen einfach nur Holz, kantig, solide, ehrlich, gemütlich, analog; und innen drin: modern, funktional, raffiniert und digital." Wirklich: Der Mann kann Geschichten erzählen und Marken pflegen. Auch die eigene.