Wellenbewegungen:Drei Quadratmeter pro Person

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Die Wohnungsnot zieht sich durch die Geschichte der Stadt

Von Sven Loerzer

Die hohen Mieten, die große Not, eine Wohnung zu finden - das ist alles andere als ein neues Thema für München und seine Stadtverwaltung. Schon vor mehr als 100 Jahren hielt eine Denkschrift fest, dass sogar weit weg vom Stadtzentrum die Mieten so hoch waren, "dass für die verschiedensten Berufskreise sich eine die normale Quote übersteigende Ausgabe für die Wohnungen ergibt". Zwischen 1883 und 1901 hatte sich die Bevölkerung Münchens auf rund eine halbe Million Einwohner verdoppelt.

Eine vom Staat im Rahmen der damals eingeführten Wohnungsaufsicht vorgeschriebene Erhebung Anfang des 20. Jahrhunderts erbrachte Zahlen, die das Elend erahnen lassen: Durchschnittlich gab es damals gerade mal drei Quadratmeter Wohnfläche pro Person in München - heute sind es 39 in der Landeshauptstadt, im bayerischen Durchschnitt sogar knapp 48 Quadratmeter. Im Westend lebten - wenn man das so nennen kann - in einem Gebäude mit elf Wohnungen 56 Familien mit insgesamt 171 Personen.

Doch erst auf staatliches Drängen hin konnte sich der Magistrat der Stadt mit knapper Mehrheit dazu durchringen, ein Wohnungsamt zum 1. Dezember 1911 einzurichten. Sieben Mitarbeiter unter Leitung eines Wohnungsreferenten erhielten den Auftrag, Missstände wie Überbelegung zu ermitteln und abzustellen. Außerdem sollten sie sich um die Vermittlung von freien Wohnungen kümmern, die dem Amt gemeldet werden mussten. Gesetze und Verordnungen zu Mietpreisüberhöhung und Kündigungsschutz, aber auch das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum entstanden in den Kriegsjahren: Klassische Mangelverwaltung.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs spitzte sich der Wohnungsnotstand dramatisch zu: Der Magistrat verhängte Zuzugsverbote. Es entstanden provisorische Massenquartiere überall, wo noch etwas Platz war: in Gasthäusern, Pensionen, Garagen, Baracken und sogar in Leichenhallen. 1921 billigte der Magistrat die "Wohnungsluxussteuer-Satzung": Wohnungsbesitzer mussten hohe Abgaben entrichten, wenn in einer großen Wohnung weniger Personen lebten, als Zimmer vorhanden waren. Trotz gewaltiger Anstrengungen - zwischen 1924 und 1931 entstanden 25 000 Wohnungen neu - entspannte sich die Lage kaum. Der städtische Wohnungsreferent Karl Preis beschrieb 1932, dass Tag für Tag nach Öffnung des Wohnungsamts eine "wilde Jagd der Wohnungssuchenden" auf den Aushang mit den vermietbaren Wohnungen startet.

Einen Monat vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Münchner Rathaus beschloss der Stadtrat am 21. Februar 1933, das Wohnungsamt bis Ende März aufzulösen. "Von der öffentlichen Meinung verkannt und fortwährenden Angriffen ausgesetzt", habe das Amt "in Tausenden und Abertausenden von Fällen kaum die Sympathien derjenigen erringen können, denen es in den Zeiten größter Not wirklich Hilfe brachte", hieß es zur Begründung. Die Wohnungsnot aber war nicht vorbei, im Gegenteil, sie wuchs vor dem Zweiten Weltkrieg weiter an. Am Ende, 1945, waren rund 80 000 Wohnungen zerstört, von den verbliebenen 180 000 waren viele beschädigt. Rund 300 000 Menschen waren obdachlos. Der Stadtrat setzte Karl Preis, der 1933 in den Ruhestand gehen musste, wieder als Wohnungsreferent ein, um erneut ein Wohnungsamt aufzubauen. Dessen Statistik verzeichnet für das Jahr 1946 rund 850 000 "Vorsprachen". Insgesamt konnten 12 206 Wohnungen und 63 244 Unterkünfte zugeteilt werden.

In den Wirtschaftswunderjahren entspannte sich die Lage mit zunehmendem Wohnungsbau. Das Amt begann damit, Hilfen für Obdachlose, die auf der Straße lebten, aufzubauen. Schien die Wohnungsnot nach den Olympischen Spielen 1972 endgültig der Vergangenheit anzugehören, zeichnete sich Ende des 20. Jahrhunderts ab, dass vor allem preiswerter Wohnraum fehlt, gerade auch für die zunehmende Zahl von Flüchtlingen. Die Arbeitsbelastung für die heute rund 1300 Mitarbeiter stieg damit enorm an.

© SZ vom 27.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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