Unterschleißheim:Zeitreise an den Ort der Zwangsarbeit

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Ein Erinnerungsort im Niemandsland: Kulturamtsleiter Jochen Gnauert, Kulturreferent Martin Nieroda (CSU), Museumsleiterin Veronika Leikauf, Bürgermeister Christoph Böck (SPD) sowie die Stadträtinnen Lissy Meyer (Grüne) und Antje Kolbe (SPD) vor dem Plakat, das auf die NS-Zwangsarbeit in der Flachsröste hinweist. (Foto: Robert Haas)

Das letzte Puzzleteil des Konzepts zur Erinnerung an die NS-Verbrechen in der Flachsröste ist fertiggestellt. Ein Ortsbesuch an der Gedenktafel wird zum digitalen Erlebnis.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

Es ist ein maximal unscheinbarer Ort, ziemlich am Anfang der langen Carl-von-Linde-Straße: links ein ausgedehnter Parkplatz eines Autohändlers, gegenüber die schicken Bürogebäude der Wenglor GmbH, wo Beschäftigte smarte 2D- und 3D-Sensoren entwickeln. Exakt dort an der Ecke zur Johann-Kotschara-Straße hängt neuerdings an einem alten Trafogebäude ein Transparent, das wie ein großes Werbeplakat aussieht und das im städtebaulichen Niemandsland auf das wohl dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte hinweist, an das dort auf der Nordseite des S-Bahnhofs Lohhof erinnert wird.

Die NS-Gewaltherrscher ließen dort von 1940 bis 1945 Hunderte Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausbeuten. Diese verarbeiteten in der Flachsröste Lohhof Flachs zu einem Vorprodukt für die Textilindustrie. Der Betrieb galt als kriegswichtig und war Teil des NS-Unterdrückungssystems.

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Das mittlerweile angebrachte großformatige Plakat ist das letzte Puzzleteil in der seit 2018 entwickelten Gedenkort-Konzeption, macht in der Stadt nahe dem Tatort die Verbrechen sichtbar und ruft dazu auf, per Smartphone über QR-Codes an den Stelen digital in die Geschichte einzutauchen. Mit einer "Augmented Reality" ist dann zu sehen, wie damals die lang gezogene Fabrikhalle aussah, in der an mächtigen Maschinen vor allem Frauen hart schufteten. Der Flachs musste in einem Gär- oder Fäulnisprozess vorbereitet, dann getrocknet und gebrochen werden. Vor allem Jüdinnen aus München, die in Baracken wohnten oder täglich am Bahnhof ankamen, Kriegsgefangene aus Frankreich und Frauen aus Belgien und der Ukraine arbeiten dort. Die Namen von 348 Opfern sind mittlerweile bekannt.

Unterschleißheims Bürgermeister Christoph Böck (SPD) sagte am Freitag bei einem Termin zum Abschluss der Arbeiten am Erinnerungsort, die Stadt setze damit "einen wichtigen Akzent für einen verantwortungsvollen Umgang mit der NS-Vergangenheit unserer Stadt". Es gehe um Erinnerung an die Menschen. Zudem zeige deren Leidensgeschichte gerade heute, da wieder antisemitische und rassistische Töne angeschlagen würden, "welch schreckliche Konsequenzen es hat, wenn wir unsere Demokratie nicht verteidigen". Das Gedenkort-Konzept haben der Historiker Maximilian Strnad und die Künstlerin Kirsten Zeitz entwickelt. Es besteht aus drei Orten, beginnend mit einem Gedenkort direkt am Bahnhof, einem Weg der Erinnerung und dem Erinnerungsort nahe der ehemaligen Fabrik, der zugleich digitaler Lernort ist.

Das eigentliche Ziel nicht ganz erreicht

Dabei hat man das eigentliche Ziel, die Menschen direkt an den historischen Ort des Leidens der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu führen, nicht ganz erreicht. Am Bahnhof finden historisch Interessierte an Stelen und Hinweistafeln zwischen im Sommer blau blühenden Leinpflanzen erste Orientierung. Über den Weg der Erinnerung mit im Boden eingelassenen blauen Markierungen und Stahlplatten, in denen die Namen der bekannten Opfer eingraviert sind, geht es zum Erinnerungsort an der Johann-Kotschara-Straße. Doch der befindet sich etwa 150 Meter von der ehemaligen Fabrik entfernt, von der noch der Turm steht und an die auch Gleise in der Straße erinnern. Der Zugang zu dem Privatgelände ist verwehrt, was das ursprüngliche Konzept für den Erinnerungsort zunichte gemacht hat - und beinahe das Gesamtprojekt hätte scheitern lassen.

Betreten verboten: Der Turm der ehemaligen Flahsröste-Fabrik steht noch auf Privatgelände. (Foto: Robert Haas)

Doch es wurde angepasst und digital ausgebaut. Wer auf das Plakat aufmerksam wird und spontan an der Straßenecke Halt macht, kann in Sichtweite des historischen Orts per QR-Code online tief einsteigen. Dies verleiht laut Veronika Leikauf, die als Leiterin des Stadtmuseums die NS-Gedenkarbeit betreut, dem Projekt eine dynamische Komponente. Online sei eine Fortentwicklung möglich. So wird mit Hilfe der Datenbank "Public History" im Münchner Kulturreferat ein Online-Gedenkbuch weiter vervollständigt, sobald weitere Namen von Opfern bekannt werden. Zunächst laufen aber verstärkt Führungen an den Erinnerungsort an, etwa mit Schulklassen. Veronika Leikauf erhält dafür eigens eine Mitarbeiterin, die im April ihre Arbeit aufnimmt.

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