Trachten auf dem Oktoberfest:"Ich kann nicht atmen, das Dirndl ist so eng"

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Auf dem Oktoberfest herrscht Ausnahmezustand, das zeigen auch Kleidung und Accessoires. Eine Stilkritik der Wiesn-Uniform.

Judith Liere

Clara singt laut mit: "Gemüüütlichkeit!", dabei ist sie von Gemütlichkeit gerade ziemlich weit entfernt. "Ich kann nicht so gut atmen", sagt sie und grinst. "Das Dirndl ist so eng. Aber das muss ja so sein." Clara trägt ein schlichtes, aber edles rosa Modell, über der Bluse wölbt sich ein Dekolleté, das so appetitlich arrangiert aussieht wie der Obstteller, der in teureren Hotels zur Begrüßung im Zimmer steht. "Und ich hab' nicht mal 'nen BH an", sagt Clara.

Was ist Tracht? Und wer bestimmt, wann ein Dirndl noch ein Dirndl ist? Fest steht nur, dass die Wiesnmode wie die ganze Veranstaltung Geschmackssache ist. (Foto: dpa)

Der Nachteil der hübsch gequetschten Üppigkeit: Die 27-Jährige traut sich nicht in den Fünferlooping, weil sie befürchtet, "dass da Nähte platzen, wenn die Schwerkraft alles umverteilt".

Doch Naturgesetze wie die Schwerkraft werden auf der Wiesn oft außer Kraft gesetzt, jedenfalls im Ausschnitt vieler weiblicher Gäste. Stattdessen entstehen neue wie dieses: Je tiefer die Sonne sinkt, desto höher rutschen die Brüste.

Mittags ist es noch beschaulich auf der Wiesn, zumindest an Wochentagen. Hier und da mal eine Gruppe trunkener Italiener in albern bedruckten T-Shirts, vereinzelt Schüler, die gerade lernen, dass Kettenkarussellfahren nach der dritten Maß eine blöde Idee ist. Sonst herrscht sanfte Mäßigung auf der Theresienwiese, und das sieht man auch an der Kleidung. Ab und zu entdeckt man Jeans und T-Shirt, ein paar Anzugträger wahren nach der Mittagspausen-Maß mit den Kollegen die Contenance. Auf der Oidn Wiesn sitzt eine junge Frau mit einer roten Ray-Ban-Sonnenbrille, auf ihrem T-Shirt steht: "I brauch koa Dirndl, i bin scho a Bayerin!"

Aber die Tracht dominiert. Und ein weiteres Gesetz lässt sich definieren: Je länger der Dirndlrock, desto ernster meint es die Trägerin mit der Tracht. Denn dann kommt es ihr nicht darauf an, möglichst sexy auszusehen, das wird schwierig im langen wallenden Rock - dann trägt sie es aus Tradition. "Die Tracht gehört in die Region", sagt eine junge Frau aus dem Allgäu, "sonst ist es eine Karnevalsverkleidung." Sie trägt an diesem Tag ihr Festtagsdirndl, in dem sie auch standesamtlich geheiratet hat, daheim hat sie noch ein "Alltagsdirndl", wie sie sagt, und ein "peppigeres, für jüngere Geburtstagsfeiern und Hüttenabende". Im Kinderwagen liegt ihr acht Monate alter Sohn, in seiner ersten Lederhose.

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Vom Karneval spricht auch Clara, allerdings mit einer anderen Meinung als die Allgäuerin: "Ich fände es respektlos, auf einem Kulturfest wie diesem ohne passende Tracht herumzulaufen. Ich rege mich auch über die Leute auf, die zum Kölner Karneval ohne Kostüm aufkreuzen."

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Clara ist Rheinländerin, sie wohnt seit zwei Jahren in München, das Dirndl hat sie sich bereits für ihre erste Wiesn gekauft. "Ich mag es, dadurch in eine andere Rolle zu schlüpfen", sagt sie. Und welche Rolle ist das? "Gerade fühle ich mich wie eine junge Wurstverkäuferin, die hoffentlich heute noch rummacht." Sie grinst über den Maßkrug. "Dirndltragen heißt voll mitmachen - und mitmachen heißt rummachen."

So offen wie Clara würden es andere Wiesngänger vielleicht nicht formulieren, doch im Grunde bringt sie auf den Punkt, was viele der allabendlichen Bierzeltbesucher auch im Hinterkopf haben. Wiesn ist Ausnahmezustand, und das wird auch durch Kleidung und Accessoires unterstrichen.

Das Gemecker so mancher beleidigter Münchner darüber, was denn bitte all die Zugroasten und Touristen Schreckliches aus ihrer jahrhundertealten Trachtentradition gemacht hätten (Mini-Dirndl, Jessas na! Filzlederhosen, Himmelherrgott!), und die tümelnde Ansicht, dass nur, wer gebürtiger Bayer sei, überhaupt Tracht tragen dürfe - all das wirkt auch ein wenig lächerlich. Schließlich holen auch die Einheimischen ihre Dirndln und Lederhosen meist nur einmal im Jahr aus dem Schrank, es sei denn sie sind im Trachtenverein oder verrückt nach Waldfesten.

Die echten Trachtler, wie die Allgäuerin mit dem Lederhosenbaby, sind an einem durchschnittlichen Abend im Zelt eher in der Unterzahl. Seit jeher gibt es bei rituellen Festen und Exzessen das Mittel der Maskerade - und diese Maskerade ist auf dem Oktoberfest in vielerlei Formen vertreten: die nur einmal im Jahr getragene Lederhose, der Bierfasshut aus Schaumstoff, die Bunnyohren oder gleich das komplette Phantasiekostüm mit Baströckchen.

Silberne Brezen baumeln am Hals

Die bajuwarischen Anspielungen dominieren natürlich, sie zeigen auch, welches Bild die Welt und auch der Bayer selbst von der Münchner Tradition hat. An Ohrringen und Halsketten baumeln silberne Brezen oder kleine Maßkrüge, die Handtäschchen sind in Lebkuchenherz-Form mit "Spatzl"-Schriftzug, über Flechtfrisuren sitzen kecke rote Filz-Jägerhütchen mit Fasanenfedern und alles, was kariert ist, wird sowieso als bayerisch angesehen, auch wenn das Muster eher dem der Tischdecke in der Pizzeria nebenan entspricht.

Fehlt nur noch das Holz vor der Hüttn für das alpenländische Bilderbuch-Panorama. Womit man wieder beim "Rummachen" wäre. Fragt man die Wiesn-Besucher, was denn an Dirndl und Lederhose eigentlich so schön sei, kommt von Männern wie Frauen als häufigste Antwort: "Es ist sexy."

So mancher mag da noch die Lederhosen-Sexfilmchen aus den Siebzigern im Kopf haben, und einige Dirndl, die man auf der Wiesn sieht, sind so knapp, dass sie direkt aus dem Kostümfundus stammen könnten. Das Bier erledigt den Rest - im negativen Fall führt es zu Grabschereien und Belästigungen, im Idealfall füllt es die Wiese an der Bavaria mit knutschenden Pärchen.

Wiesn-Mode ist also auch Verkleidung, die den Freibrief zum Exzess liefert und zeigen soll, dass man voll dabei ist. Das fällt schnell auf, wenn man sich mal in normaler Alltagskleidung abends ins Zelt wagt. "Ich find's total angenehm, als hätte ich eine Tarnkappe auf", sagt die 32-jährige Julia, die an diesem Abend bewusst ohne Tracht unterwegs ist, weil sie es ruhiger angehen lassen will. "Eben hat mich ein Typ im Gedränge angemacht, aber dann an mir runtergeschaut und gesagt: Du hast ja gar kein Dirndl an. Dann ist er weitergegangen."

© SZ vom 30.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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