Dance München 2021:Zwischen Wut und Weltumarmung

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Elf Tage Festival im Internet: "Dance" digital ist anstrengend, aber spannend und so politisch wie nie

Von Eva-Elisabeth Fischer, Rita Argauer und Sabine Leucht, München

Elf Tage Festival Dance zwangsweise auf dem Schirm verflacht: Da steigt jede(r) zwischendrin aus - schreiend oder stumm resigniert. Diese, ihre fünfte Ausgabe der Tanzbiennale war aber dennoch die bisher rundeste, die spannendste, die Nina Hümpel im Team mit Katja Schneider gelungen ist. Vor allem war sie konsequent politisch gedacht und dabei dank der Qualität der Aufführungen potenziell so wirkmächtig, wie Tanz sein kann.

Der Israeli Emanuel Gat wollte sein Stück nicht als Livestream zeigen, weil es eben für die Bühne gemacht ist und der Film andere Mittel verlangt. Gat weiß, wovon er spricht, weil er als Tausendsasa auch noch bildnerisch arbeitet mittels Film, Fotografie und Installation. Deshalb zeigt er im Künstlergespräch mit Peter Sampel Ausschnitte seiner Sommerresidenz für junge Tänzer und Choreografen, die lernen sollen zu wissen, was sie tun. Sie haben herzerfrischend großen Spaß dabei.

Auch insofern also agiert Gat keineswegs apolitisch. Aber weil er weiß, dass er in Israel der Realpolitik niemals entkommt, zog er 2007 nach Istres in Südfrankreich. Noch in Israel, tanzte er zu Anfang seiner Karriere bei Liat Dror und Nir Ben Gal, die 1987 ff ihr Signet-Stück "Two Room Apartment" rauf und runter spielten - München inclusive. Der Tänzer Niv Sheinfeld, eine Zeitlang ebenfalls bei der Liat Dror Nir Ben Gal Company, tourt zusammen mit dem Schauspieler Oren Laor, mit dem er seit fast 20 Jahren völlig selbstverständlich sein Leben teilt, mit "Two Room Apartment" in gehärteter Version in einer Art Dauerschleife um die Welt - auch wiederum in München zu Dance 2017.

Als gedoppeltes Zoon Politikon schreiten die beiden ihre abgezirkelten Räume ab im Beziehungsclinch auf engstem Raum in symbolträchtigen Farben: Sheinfeld trägt einen Blouson im Grün der Palästinenserflagge. Der von Laor hingegen leuchtet Davidstern-blau. In "Big Mouth" reiht sich Keren Levi als Dritte ein im lässigen Marschrhythmus. Den gibt "Die Hymne der heldenhaften 7. Panzerbrigade" vor, die Ori Vidislavsky als sarkastischen Kommentar zum für Israel traumatischen Jom Kippur-Krieg 1973 komponierte. Keren Levi reißt in "Big Mouth" in Anlehnung an Edward Munchs berühmtes Gemälde ihren Mund unnatürlich weit auf - auch, weil sie diesen Marsch hasst. Mit Blick auf Israel müssten der Wahlamsterdamerin aktuell beim Schreien die Mundwinkel einreißen.

Wut kann für so etwas die mögliche Kraft bereitstellen. "Über die Wut" hat die Münchnerin Anna Konjetzky ganz sachlich ihr Stück, das nun als ein Tanzfilm bei Dance uraufgeführt wurde, genannt. Der erinnert an Susan Sontag und funktioniert auch dramaturgisch wie ein Essay. Zuerst die Beispiele: Tänzerin Sahra Huby exerziert die Sichtbarkeit der Wut im Körper. Stampfen, Krampfen, Kotzen, das Gesicht Verzerren. Ein leerer Rahmen, der von der Decke hängt, stellt die teils plakativen, beinahe comichaften Zustände aus. Dazu gibt es dröhnende Drone-Klänge. Teil zwei zeigt die künstlerische Verarbeitung von Wut: Allen voran die genialische 90ies-Band Rage Against the Machine. "I won't do what they tell me", zitiert Huby sowohl eine berühmte Zeile als auch den Habitus von Sänger Zack de la Rocha. Schließlich das Ziel der Wut: gesellschaftliche Zustände, der Umgang mit Geflüchteten, die Ungerechtigkeit der Machtverteilung, projiziert auf aufgehängte Papierstreifen als Kulisse. Und am Ende versammelt sie wie in einem Anruf an weltliche Göttinnen all die Frauen um sich, die wüteten, dachten, schrieben. Willkürlich von Simone de Beauvoir über Ulrike Meinhof zu Virginie Despentes: Fertig ist das Mittelfinger-Manifesto. Das ist von den Bildern her alles sehr eindeutig, in der Chiffrierung einfach, aber zielsicher.

Die Vergangenheit ruft auch die Münchnerin Judith Hummel an. Allerdings versucht sie, Allgemeingültiges aus der eigenen Familiengeschichte herzuleiten. Im Sugar Mountain, einem neuen Kulturort in einer alten Industrieruine in Sendling, reibt sie Ziegelsteine - als Reminiszenz an ihre Großmutter, die in Ungarn Ziegelsteine zerrieb, um als Kind damit Kaufladen zu spielen. Durch die Übertragung dieser Geste ins Performative, flankiert von symbolisch aufgeladenen Handlungen wie einer Fußwaschung, wird aus dem Ziegel-Gereibe etwas sehr Großes: Was vermutet man dahinter, was erzählt das über die Verhältnisse in Ungarn, damals, womöglich sogar heute? Bei genauerer Betrachtung ist das aber eher banal. Kinder spielen und definieren das Material um sich herum in das um, was sie gerade brauchen. Das ist etwas sehr Schönes. Da kann ein Stöckchen oder ein Ziegel, heute wie damals, zu einem Feuerzeug oder zu Paprikapulver werden. Viel mehr ist es aber bei Hummel dann auch nicht, trotz der toll skelettierten Akkordeon-Musik von Evi Keglmaier.

Richard Siegal beruft sich in seinem zweiten Stück für Dance "New Ocean Cycle" zunächst auf die Ideen anderer: Dem Video der Aufführung aus der Pinakothek der Moderne stellt er Internet-Videoschnipsel von Greta Thunberg bis zurück zum Anthropozän zur Seite. Ebenso willkürlich wie bei Konjetzky reicht ihm das als Rahmen, um seinen tänzerischen Ästhetizismus ins politisch Agitatorische zu ziehen. Der Tanz bleibt davon unberührt: Die Tänzerkörper lässt er unter Kapoors "Howl" wie Astralkörper zur geschmackvoll minimalistisch knisternden Musik von Alva Noto kreiseln. Das überrascht nicht, tut aber auch nicht weh.

Ganz anders das Solo von Serge Aimé Coulibaly: Ein Mann steht in einem dunklen Raum in Burkina Faso und bleckt die Zähne. Hustet er? Lacht er? Weint er? Und geht es dabei um ihn, sein Land oder die Pandemie? Statt Erzählfäden spannen sich Muskeln, und Bewegungen greifen eckig bis expressiv in eine Umgebung aus, die durchschnitten werden muss wie eine feste Masse. Die Uraufführung "Fitry", auf Deutsch: "Dämmerung", ist das Zeugnis einer Zerreißprobe und ein kraftvoller Schrei vom afrikanischen Kontinent, der dem Tanz eine zumindest vorübergehend befreiende Funktion zuspricht. Wenn nur die Musik die Szenen nicht künstlich dramatisieren oder beflügeln würde.

Auch in Rabih Mroués mit dem Berliner Dance on Ensemble erarbeiteten Doppelabend hat der Tanz emanzipatorisches Potenzial. Diesmal vor allem vom Bild. In "Elephant" von 2018 nehmen zwei Tänzer behutsam die Positionen von Kriegs- und Flucht-Opfern ein, von denen der aus dem Libanon stammende Regisseur hunderte Bleistiftzeichnungen angefertigt hat. Im ein Jahr später entstandenen "You should have seen me dancing Waltz" kommen choreografische Befehle aus dem Off, die eine irrwitzige Logik mit der politischen Ikonografie kurzschließt: Vom Heckenschützen bis zur Außenpolitik der USA. Die Tänzer verweigern sich diesen Repräsentationsaufgaben mehr und mehr, weichen in Bewegungsassoziationen aus oder lesen Zeitung. So finden ein beklemmendes Thema, schwarzer Humor und tänzerische Leichtigkeit zu eindrucksvollen Bildern zusammen.

© SZ vom 18.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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