Kioskgeschichten:Fest in Frauenhänden

Lesezeit: 3 min

Im Laufe der 113 Jahre seines Bestehens hat der Kiosk am Sendlinger Tor sein Aussehen ein ums andere Mal gewandelt. (Foto: Florian Peljak)

Im Jahr 1900 gründete Anna Bräu einen Zeitungsladen am Sendlinger Tor. Heute bedient Annemarie Cermak in vierter Generation die Stammkunden.

Von Laura Kaufmann

Annemarie "Bobbi" Cermak war zwei Tage alt, als sich ihr Leben um den Kiosk zu drehen begann. Sicher, damals war ihr das noch nicht bewusst, als sie, dick eingepackt in einem Fellsack, zum ersten Mal zwischen den Zeitschriften schlief, während ihre Mutter die Stammkunden bediente. "Mei, so ein süßes Bobberl", sagte ihre Tante bei dem Anblick. Und seitdem nennt Annemarie Cermak niemand mehr Annemarie, seitdem ist sie Bobbi.

Dabei hat ihr Name eine Tradition, die älter ist als der Kiosk Cermak selbst, und den gibt es nun schon im 113. Jahr. Bobbi Cermaks Urgroßmutter Anna Bräu war es, die 1900 den Zeitungsladen gründete, in der rechten Stadtmauer neben dem Sendlinger Tor. Ein Bombenangriff im Krieg zerstörte den Laden. Tochter Anna Gams, die mittlerweile übernommen hatte, beantragte bei der Stadt die Genehmigung für einen Kioskbau, um weiter Zeitungen verkaufen zu können, und fortan war das Geschäft am linken Tor des Turms beheimatet.

München
:Die zwei Kioske vom Schyrenplatz

Der eine hat ein Herz für Hunde und Obdachlose, beim anderen verkehrt "gehobeneres" Publikum. Aber in einem sind sie gleich: Beide leben von ihren Stammgästen.

Von Thomas Anlauf

Einmal, als der Platz verschönert werden sollte, wollte man ihrer Oma die Konzession entziehen, weil der Kiosk nicht mehr ins Stadtbild passe, erzählt Bobbi Cermak. "Meine Oma ist daraufhin ins Rathaus marschiert, direkt zum Bürgermeister Scharnagl, und hat ihm erklärt, dass der Kiosk ihre Existenzgrundlage sei, sie hätte Zwillingsmädels daheim." Ihr Auftreten zeigte Wirkung: Der Kiosk blieb bestehen.

Anna und Maria hießen diese Zwillingsmädels, und so war es gemäß der weiblichen Familientradition nur logisch, dass Annas Tochter den Namen Annemarie erhielt. Leicht hatte sie es nicht immer als Kind: Die Mutter schmiss den Betrieb beinahe allein, nur eine Aushilfe hatte sie. Der Vater, ein Kaminkehrer, packte manchmal nach der Arbeit noch mit an. Urlaube waren da kein Thema, und das Familienleben spielte sich eigentlich nur zum Abendbrot und zum Schlafen in der Wohnung ab. "Mein Leben hat sich schon immer um den Kiosk gedreht", sagt Bobbi Cermak also.

Früher lebten die Freundinnen auf der Sendlinger Straße

Aufgewachsen ist sie in einem Haus in Spuckweite - heute lebt sie unweit ihres Reichs im Glockenbachviertel. Zur Schule gegangen ist sie erst am Angertor, später auf eine nahe Realschule. Und die Tante hatte ein Friseurgeschäft beim Sendlinger Tor. "Damals war die Gegend noch ein bisserl anders, ich hatte auch viele Freundinnen in der Sendlinger Straße, die ich zum Spielen abgeholt habe", sagt die 49-Jährige. "Heute wohnen da kaum mehr Leute."

Dafür arbeiten einige in der Sendlinger Straße, und die lugen an diesem grauen, nassen Morgen unter ihren Schirmen hervor ins Fenster, rufen "Guten Morgen!", oder "Wie geht's?", "Wie war der Urlaub?". Und Uschi Kiefer, die auch schon seit sieben Jahren hinter der Verkaufstheke steht, ratscht mit jedem Stammkunden ein paar Worte, fragt "zwei oder drei?" und legt unaufgefordert die bevorzugte Zigarettenmarke auf den Tresen oder die Lieblingszeitung. Draußen radelt ein Mann durch den Regen und winkt, Bobbi Cermak grüßt aus dem geheizten Nest zurück, "ein Regisseur, ein ganz ein Netter".

Im Urlaub waren die beiden Frauen hinter dem Verkaufsfenster gerade zusammen, eine Woche Studienreise Israel haben sie sich gegönnt. Der Kiosk ist eine Familie, immer noch eine zum Großteil weibliche. Nur ein "Quotenmann", wie er liebevoll genannt wird, ist vor zwei Jahren dazu gestoßen. Da hatte Bobbi Cermak den alten Kiosk gerade an eine Berliner Requisitenfirma verkauft. Über 40 Jahre hatte er der Familie treue Dienste geleistet.

Der neue, den sie mit einem Untergiesinger Schlosser entwickelte, ist etwas geräumiger innen, hat ein Glasdach, welches Tageslicht hereinlässt. Das und seine 111 Jahre feierte der Kiosk Cermak mit einem Straßenfest, 500 Leute waren da, auch die Eltern. Nicht lange danach starb Cermaks Mutter. Ein paar Monate später der Vater. "Als ob sie von dem Gedanken beruhigt gehen konnten, dass es gut weitergeht mit dem Kiosk", sagt Bobbi.

So lange es ging, hatte die Mutter noch mit im Kiosk herumgeräumt, viele Stammkunden kamen zur Beerdigung. Manche kaufen seit Jahrzehnten an dem Häuserl neben dem Sendlinger Tor. "Neulich waren zwei ältere Kunden am Kiosk, die kannten meine Oma noch aus Jugendzeiten und dachten erst, ich müsse die Tochter sein", sagt Cermak. "Da habe ich erklärt, dass da eine Generation dazwischenliegt."

Serie
:Der Kiosk, der die Farbe wechselt

Gegen den Kiosk an der Münchner Freiheit gab es sogar eine Unterschriftenaktion. Aber nun sind viele froh, dass er da ist.

Von Laura Kaufmann

Die Kioskchefin arbeitet stetig daran, ihr Geschäft am Laufen zu halten. Eine gut gepflegte Homepage hat der Kiosk, auf der täglich neu eintreffende Zeitschriftenraritäten veröffentlicht werden und Kunden Sonderwünsche bestellen können, eine Facebookseite gibt es auch. Stolz ist Bobbi Cermak, dass sie eher mehr Zeitungen verkauft als früher, allem angeblichen Printsterben zum Trotz. Und dass sie mittlerweile auch Lotto anbieten darf, hilft ihr darüber hinweg, dass die Leute mehr und mehr MVV-Tickets übers Smartphone kaufen statt am Kiosk.

Eine Frau, die für ihre Existenz kämpft

"Du musst eben immer dran bleiben", sagt Cermak, und man hat dabei gleich eine Vorstellung im Kopf von den Generationen von Annas, diesen kämpferischen Frauen der Familie, selbständig seit vielen Jahrzehnten. "Meine Mutter war sanfter", sagt die Betreiberin. Aber als sie neulich bei der Stadt etwas beantragte, sagte ihr ein älterer Mitarbeiter, sie sei definitiv aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Oma. Toughe Frauen mit Herz eben, die für ihre Existenz kämpfen.

Bobbi Cermak hat übrigens zwei Söhne, 19 und 21 Jahre alt. Momentan ist der eine Kaminkehrer, der andere studiert Medien. Aber den Kiosk, den wollen sie beide einmal machen. Und vielleicht heiratet einer von ihnen ja eines Tages sogar eine Anna.

© SZ vom 25.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: