SZ-Serie: München erlesen:Weltenfremd und zimmerblind

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Annette Kolb bei der Verleihung des Goethe-Preises in der Frankfurter Paulskirche im Gespräch mit Albert Schweitzer (rechts). (Foto: Imago/ZUMA/Keystone)

In "Die Schaukel" schildert Annette Kolb die Geschichte einer unkonventionellen Familie

Von Jutta Czeguhn, München

Er ist "zimmerblind", dieser Herr Lautenschlag. Und so treibt es ihn hinaus, frühmorgens, wenn die Gassen noch schlummern. Dann lässt Annette Kolb diesen "Mann der ersten Dämmerungen", mit dem sie ihrem Vater Max Kolb ein literarisches Denkmal gesetzt hat, durch das menschenleere München spazieren. Dann geht es vom Haus mit der Nummer 7 am Alten Botanischen Garten über den Karlsplatz zum Hofgarten. Denn nur in der Natur, zwischen Blumenbeeten und Ranken, scheint sich der sanfte königlich-bayerische Gartenschöpfer von der ewigen Sorge um die Seinen befreien zu können. Das sind dann auch die Momente, in denen die Leser etwas zur Ruhe kommen in diesem Münchner Familien-Roman, der einen so stimmungsextrem hin und her schleudert zwischen unbändigem Gelächter und tiefster Seelenverzweiflung: Annette Kolbs "Die Schaukel".

Als Kolbs dünnes Büchlein über das Schicksal der Familie Lautenschlag, hinter der unverkennbar ihre eigene Sippe steckt, 1934 erscheint, ist die Schriftstellerin schon weit entfernt von jenem München der Prinzregenten-Zeit, auf das sie im Roman ohne Zerrspiegel und allzugroße Sentimentalität zurückblickt. Die glühende Pazifistin aus bayrisch-französischem Elternhaus, Tochter zweier Vaterländer, sitzt da längst in einem Pariser Hotel im Exil. "Fräulein Kolb", wie sie sich bis ins höchste Alter als Anrede ausbedungen hat, war eine weitsichtige, kompromisslose Person. Schon kurz nach Hitlers Reichstags-Rede im Frühjahr 1933 hatte sie, mit zwei Koffern und einer ihrer legendären Hutschachteln bepackt, das Land verlassen. Und erst unendlich viel später, 1961 und mutmaßlich 91-jährig, wird sich diese Nonkonformistin wieder in München niederlassen, in dieser "individualistischsten Stadt der Welt", in der der Boden "für das Ausgefallene aufnahmebereiter war als andernorts", wie es an einer Stelle in der "Schaukel" heißt.

Von den ersten Seiten an versetzt die allwissende Erzählstimme des Romans ihre Leser in einen emotionalen Schwindel. Die Zeiten, warnt sie, würden ihr des öfteren in Unruhe geraten. Und so schwingt sie wie eine Schaukel zwischen den Epochen hin und her. Nicht immer ist ihr Kristallkugel-Blick eine literarische Notwendigkeit; wenn sie etwa vom noch ausstehenden Weltkrieg raunt, Figuren aufs Totenbett katapultiert oder am Stacheldraht verenden lässt, die doch eben noch putzmunter waren und sich gleich auch wieder an einen Flügel setzten oder das Tanzbein schwangen. Doch macht sich so beim Leser nach und nach Unruhe breit. Denn eines ist klar, es wird nicht gut ausgehen mit diesen wunderbar größenwahnsinnen Lautenschlags, die man Seite für Seite mehr lieb gewinnt.

Wie mit der Hutnadel auf die Karte der Zeitgeschichte gepinnt ist allerdings der Erzählanlass: der Brand von Münchens legendärem Glaspalast 1931, der Wirkungsstätte des Garten-Enthusiasten Lautenschlag. Da sind die Geschwister Lautenschlag, so erfährt man, schon längst in alle Winde verstreut. Sogar bis nach New York, von wo nun angesichts Feuer-Kunde der bittere Wunsch herüberdringt, das Elternhaus dicht neben dem Glaspalast, dieses "unerträgliche Memento", wäre am besten gleich mitverbrannt. Eine Verwünschung, die fortan wie ein schwarzer Engel über allem schwebt.

Die Lautenschlags, die der Leser nun ein Jahr lang begleiten wird, lernt man als Großmeister der Verdrängung kennen. Im München der Prinzregentenzeit leben sie in "radikaler Mittellosigkeit" auf großem Fuß, denn der Genius des Geldes scheint ihnen noch feindlicher gesinnt als der Pleite-Gräfin Franziska zu Reventlow. Herrlich lustig ist das erzählt, wenn diese armen Schlucker die enormen Löcher in ihren Strümpfen wie Trophäen betrachten, wenn sie Wintermäntel und Galoschen bei der Tandlerin aus der Dachauer Straße versetzen, um die große Duse im Theater sehen zu können. Wenn sie viel beachtete Soireen geben, zu denen Hofkutschen vorfahren, denen gebrechliche Palastdamen, abgesetzte Königinnen, aber auch berühmte Dirigenten entsteigen. In seinem Element ist dann Mathias, das 15-jährige Küken der Familie, ein Mädchen mit Jungennamen, warum erfährt man nicht. Sie ist notorisch gradaus, Annette Kolbs Alter Ego wohl, ein hellsichtiger Trampel in dieser so weltentfernten Familie. Die älteren Schwestern, Gervaise und Hespera, besitzen Talent, Charme und labile Grazie. Dann ist da Otto, der einzige Sohn, den Mathias "Zündhölzelverkäufer" schilt, und den seine Pariser Maman kaum versteht, weil er grundsätzlich nur bairisch redet. Madame Lautenschlag, die feenzarte Pianistin im Münchner Exil, die der Welt von Flaubert und Maupassant entstammt, versucht in dieser Familie vergeblich Etikette zu wahren mit ihrem Stoßseufzer "parce qu' il faut!". Weil es sich so gehört...

Im liberalen München des Fin de Siècle spottet man über diese Unkonventionellen und sie spotten mit ihrem Talent für Komik zurück. Sie sind und bleiben Außenseiter, was sie in soziale Bedrängnis bringt. Und sie mit der edlen Baronin James verbindet, einer reichen jüdischen Dame, die diese hilflos treibende Familie protegiert. Dem Antisemitismus ihrer Zeit antwortet Annette Kolb in diesem Roman mit einer ungewöhnlichen literarischen Geste. Sie versieht die Charakterskizze der Baronin mit einer Fußnote, in der sie die Verdienste der Juden um das kulturelle Leben in Deutschland würdigt. Erst nach 5000 gedruckten und auch in Deutschland noch verkauften Büchern legt Goebbels dem S. Fischer Verlag die Daumenschrauben an, die Fußnote verschwindet.

Im Roman, den Percy Adlon 1983 mit bis in die winzigsten Nebenrollen perfekter Besetzung zum Niederknien schön verfilmt hat, verdüstert sich der flirrend heitere Münchner Himmel über den Lautenschlags. Und die Schaukel wird still stehen am Ende. Wie die Zeit im verwünschten Haus mit der Nummer 7 neben dem abgebrannten Glaspalast, über das Annette Kolb ihren vielleicht meist zitierten Satz geschrieben hat: "Kaputt ist kaputt in diesem Haus, und repariert wird nichts."

Annette Kolb "Die Schaukel" , Fischer Taschenbuch, 15 Euro

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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