Sie sind früh dran. Um acht Uhr erreichen sie den kleinen Strand bei Tignale am Westufer, wo der Kies ganz fein gemahlen ist. Die Surfer tanzen da schon auf dem Wasser, sie übernachten hier, um am Morgen auf den Brettern zu stehen, wenn der Pelér von Norden her auffrischt, der König der Gardawinde.
Verena Prechtl und ihr Freund Maxi holen sich noch schnell Cappuccino und Brioche in der kleinen Bar. So machen sie das immer, wenn sie im Sommer am Gardasee sind. Doch an diesem Tag greift er zum Fotoapparat, als sie ihr Strandkleid abstreift. Verena posiert auf der kleinen Mauer, die Morgensonne im Gesicht, den Pelér in den Haaren. Das Bild zeigt Verena im Blumen-Bikini, Kleidergröße 48. "So wie ich bin und ohne Weichzeichner", wird sie kurz darauf über das Foto schreiben, als sie es via Instagram der ganzen Welt zeigt und die Welt sich darüber auslässt. Ihr Freund Maxi hatte sie noch gewarnt. Das war vor einem Jahr.
Verena Prechtl setzt sich als Plus-Size-Model in Szene. Die 29-jährige Münchnerin betreibt zusammen mit einer Freundin einen einzigartigen Modeblog: Prechtl ist die Kurvige, die 27-jährige Sophia Faßnacht die Dünne - zusammen sind sie "The Skinny and the Curvy One". Die Bilder entstehen in München und am Gardasee, wo Verena Prechtl in Tremosine oberhalb von Limone in einer Ferienwohnung lebt, die ihre Eltern vor drei Jahrzehnten als Ruine übernahmen und herrichten ließen. Gut ein Dutzend Mal im Jahr fährt sie über den Brenner und lässt bei Bozen die Fenster runter, um die erste italienische Luft zu atmen.
Zwischen Hass-Kommentaren und Likes
Noch am Strand von Tignale erreicht sie damals der Shitstorm, wie Prechtl es nennt. Vor allem Frauen nennen das Bikini-Bild einen "Totalschaden", philosophieren über ihre Blutwerte, posten Schweinchen-Bildchen unter dem Stichwort "#diet". "Ich hatte ein mulmiges Gefühl, mich halbnackt ins Internet zu stellen", sagt Verena Prechtl. Doch es war richtig, wie sich herausstellt. Denn der Wind dreht sich schnell, so wie am Mittag auf den Pelér die Ora folgt, die Brise aus dem Süden.
Auf die Hass-Kommentare folgen die Likes - 2500 bekommt sie in ein paar Tagen, ein zweites Bikini-Bild sogar 10 000. Dazu Hunderte E-Mails, in denen sich Frauen bedanken, dass sie sich jetzt wieder ins Freibad trauen, dazu herzzerreißende Kommentare: "Gibt es etwas, das du dir selbst einredest, damit du die Blicke überstehst?" Und Verena Prechtl antwortet: "Ich denke mir, die finden bestimmt meinen Bikini schön oder meine Haare."
Sie stellt sich diesen Blicken und sie stellt sich in ihrem Blog dem Vergleich mit ihrer dünnen Freundin Sophia. Vor drei Jahren haben sie die ersten Bilder online gestellt. "Ich möchte anderen zeigen, dass man sich auch mit Kleidergröße 48 schön anziehen kann", sagt Prechtl. "Ich kenne viele Frauen, die nur Jogginghosen tragen."
Während die Touristen auf der Promenade in Limone in ausgebeulten kurzen Hosen auf Flip-Flops vorbeischlurfen, trägt sie beim Treffen ein kurzes, korallfarbenes Kleid. Schließlich ist es Sonntag und da machen sich die Italiener fein, die Männer im Sonntagsanzug, die Frauen in Kleid und Stöckelschuhen, um einen guten Eindruck zu machen. Dieses "Bella figura"-Machen - das Leitmotiv der italienischen Alltagskultur - hat natürlich nichts mit der tatsächlichen Figur zu tun und geht weit über den oberflächlichen Eindruck der Kleidung hinaus. Denn wer wirklich "bella figura" macht, lässt auch andere gut aussehen. Nur: Am Sonntag sind auf der Promenade von Limone schon lange keine Italiener mehr unterwegs.
Verena Prechtl liebt dieses Prinzip wie vieles an Italien, doch es geht ihr mit ihrem Blog und den Bikini-Fotos vom Gardasee um mehr.