SZ-Adventskalender:Nur nicht stehen bleiben

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Qamile O. wurde als Kind so schwer an einem Auge verletzt, dass es völlig erblindete. Jetzt will sie Jura studieren - und hofft auf eine weitere Operation, um wieder ein wenig sehen zu können

Von Thomas Anlauf

Obwohl nahezu blind, besuchte Qamile Q. in München die Realschule, dann gelang ihr sogar das Abitur. Jetzt will sie studieren. (Foto: Catherina Hess)

Ihr laufen die Tränen über die Wange, als Qamile O. von ihrer Familie erzählt. Die Mutter, die ihr so wichtig ist, die Geschwister. Sie sind weit weg. "Ich musste mich entscheiden", sagt sie und drückt ihre Tränen fort. Ihr rechtes Auge sieht fast nichts mehr. Auf dem anderen Auge ist Qamila O. seit früher Kindheit blind. Und doch hat die junge Frau Unglaubliches geleistet. Sie besuchte in München die Realschule, dann gelang ihr sogar das Abitur, jetzt will sie Jura studieren. Es ist ihr gelungen, weil sie sich entschieden hat, auf ihre Kindheit zu verzichten, um zu lernen, um alles an Wissen aufzusaugen, was sie in ihrer schemenhaften Welt erfahren konnte.

Qamile O. musste als Kind eine folgenschwere Entscheidung treffen - und sie fiel ihr sehr schwer. Als sie drei Jahre alt war wurde sie in ihrer Heimat Kosovo so schwer von einer Tür am Auge verletzt, dass es völlig erblindete. Wegen einer schweren Augenerkrankung, die später dazu kam, kann sie heute eigentlich nichts mehr sehen. Sie hatte oft schreckliche Kopfschmerzen, ihre Augen taten ihr weh und sie weinte oft an der Schulter der Mutter. Ihr Vater verließ mit ihr die Familie und ging nach Deutschland, weil er hoffte, dass hier seinem Kind mit dem schweren Augenleiden geholfen werden könnte. Sie musste sich zahlreichen Operationen unterziehen. Im Alter von zehn Jahren war ihr klar: Entweder sie versucht, in München groß zu werden und immer wieder schwere Operationen zu erdulden, oder sie würde blind bleiben, ohne Schulausbildung und immer auf das Mitleid und die Hilfe der Menschen in ihrer Umgebung angewiesen sein.

Zunächst musste sie gemeinsam mit ihrem Vater in einer Asylunterkunft in einem kleinen Zimmer hausen. Sie hatte damals viel Zeit - und sie begann zu lernen, so viel es ging. "Ich wollte etwas im Leben erreichen. Ich wollte nicht stehen bleiben und dauernd die Unterstützung von anderen Menschen bekommen müssen", sagt sie heute. Freizeit, wie andere Kinder und Jugendliche hatten, hatte sie kaum. Dafür lernte sie fast autodidaktisch schnell Deutsch und erbrachte trotz ihrer Sehbehinderung in der Schule erstaunliche Leistungen. Im vergangenen Sommer schaffte sie sogar das Abitur, obwohl sie während des Lernens auf die Prüfungen drei schwere Augenoperationen durchstehen und deshalb Klausuren nachholen musste. Nun wollte sie eigentlich beginnen, Jura zu studieren. Doch es kam anders.

Ihr geringes Sehvermögen, sie hat auf dem einen Auge nur noch fünf Prozent Sehfähigkeit, warf sie jetzt wieder einmal zurück. Der Augenarzt will nun nach Weihnachten eine weitere Operation versuchen, damit die junge gebildete Frau mit ihren 25 Jahren wieder ein wenig besser sehen kann. Doch die schwierige OP kostet viel Geld, die Krankenkasse zahlt womöglich nicht. Und Qamile Q. und ihr Vater leben vom absoluten Existenzminimum. Im gemeinsamen Haushalt fehlt es an so vielem, einem Staubsauger, einer Kaffeemaschine, Regale und ein Esstisch. Und wenn die Operation gelingt, bräuchte sie dringend einen Laptop, damit sie weiter lernen kann. In der Vergangenheit hat sie sich schon jahrelang neben der Schule mit Psychologie und Biologie beschäftigt. "Mir sind die Zusammenhänge auf der Welt sehr wichtig", sagt sie ernst. Ihr Schicksal meistert sie mit ihrer ganz speziellen Art: "Das Lernen hat mich motiviert."

© SZ vom 20.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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